Es war in den frühen 90er Jahren, in der kurzen Zeitspanne zwischen den neonbunten Jogginganzügen des Pop und den Holzfäller-Hemden des Grunge. Es war, bevor House Tekkno hieß – es war sogar, bevor Tekkno Techno hieß.
Die chinesische Mauer war gerade gefallen, und Mongolen und Chinesen lagen sich glücklich in den Armen, endlich wiedervereint. Oder so ähnlich.
So lange ist es her, dass das letzte Mal der November ein Lied erhielt. Es war eine amerikanische Kapelle mit Pistolen und Rosen im Namen und Hang zum Plakativen, die dem Novemberregen ein episches Lied widmete. Und tatsächlich schaffte es die Hymne an jenen kaltgrauen Flüssighagel damals an die Spitze der Charts. Aber seien wir ehrlich, damals hätte auch das Startgeräusch eines 28k-Modems die Hitparaden stürmen können.
Ich war stets froh, wenn „November Rain“ im Radio gespielt wurde, denn die anderen Sachen, die es da so zu hören gab, waren immer schlimmer. Da gab es Lieder, die hießen „Rhythmus ist ein Tänzer“ und Bands, die nannten sich „Herr Präsident“.
Das war der Soundtrack, zu dem ich auf der Kirmes abseits des Autoscooters verkloppt wurde, von Jungs, die mit elf schon rauchten. Heute, fast zwanzig Jahre später, sind diese Burschen immer noch rauchend auf der Dorfkirmes am Autoscooter anzutreffen, einer von ihnen darf sogar Karten abreißen.
Aber nur, wenn der Besitzer mal krank ist. Ansonsten müssen sie mit stumpfen und rostigen Zahnbürsten die Fahrfläche reinigen, während ihnen achtjährige Rowdies über die Finger fahren. Abends auf dem Heimweg weinen sie, aber vielleicht ist es auch nur der Novemberregen, der von ihrer Nasenspitze tropft.
Das stimmt natürlich alles wahrscheinlich nicht, aber das ist meine Kolumne, und da schreib ich, wie ich will. Das machen andere auch, ich weiß das. In der FAZ stand neulich auf der Titelseite der Satz: „Wer so sein wollte, wie die Franzosen gerne wollten, dass alle glaubten, wie sie seien, der hängte sich früher eine Gauloise in den Mundwinkel.“
Also: Weil ich wollte, dass die Schlägerkinder vom Autoscooter heute so sind, wie ich glaubte, dass sie sein würden, hing ich halt entsprechende Geschichten in meinen Kolumnenwinkel. Da muss man ja auch keine hutzelige Wahrsagerin sein, die ihr eigenes Glasauge als Kristallkugel nutzt, um zu ahnen, was aus jenen menschgewordenen Klapp-spaten geworden ist.
Davon ab war in den 90ern ja auch nicht alles total November-mäßig. Eigentlich war es ein grundoptimistisches Jahrzehnt. Wir gründeten alle Software-Firmen und schwärmten in ausufernden Anglizismen von Webdesign und Corporate Identity, ohne zu wissen, was das überhaupt heißt. Damals war das vollkommen legitim, lange bevor die New-Economy-Bubble burstete (sprich: böhrstete).
Unlängst jedoch saß ich in einem Fernverkehrszug, und unweit von mir unterhielten sich zwei Absolventen von Betriebswirtschaftlichen Studiengängen, wie sie selbst kundtaten. Sie sprachen laut, vermutlich um vom Inhalt abzulenken, eine gern gewählte Taktik. Doch ich kam nicht umhin, folgenden Satz zu hören:
„Der Head von der Abteilung hat ganz gut verdient, aber nicht sooooo extra-ordinary!“
Dicht gefolgt von:
„Aber wenn der was gesagt hat, dann war das given.“
Ein ICE-Abteil ist kein Autoscooter, aber ich schwöre (echt jetzt, Alter!), wenn im Hintergrund „Coco Jambo“ gelaufen wäre, dann hätte ich beide in den Schwitzkasten genommen und ihnen gegenseitig mit ihren eigenen Business-Birnen Kopfnüsse gegeben. Auch ich kann ein Bully sein. So, da habt ihr euren Anglizismus. Und weil ich so sein wollte, wie die Scooterschläger gerne wollten, dass alle glaubten, wie sie seien, hängte ich mir auch noch eine Gauloise in den Mundwinkel. Und rauchte. Obwohl das mit 31 wesentlich weniger zum gefühlten sozialen Aufstieg beiträgt, als mit 11. Egal, ob wir jetzt von Lebensjahren oder IQ-Punkten reden.
Trotz allem würde ich mich noch beim Schlagen fragen, was „Coco Jambo“ eigentlich heißen soll. Dieser Hit der 90er von „Mr. President“ aus Bremen ist entweder ein neo-dadaistisches Meisterwerk oder einfach wahnsinnig bekloppt. Wahrscheinlich beides. Der Titel allein ergibt schon keinen Sinn, es sei denn, die Band wollte die Modeschöpferin Coco Chanel auf Suaheli begrüßen: „Jambo, Jambo, Coco!“
Im restlichen Text des Songs wird von der Sängerin hübscherweise wiederholt gefordert, man solle sie hoch- und runtermachen, ihre Füße am Boden lassen, ihr Herz nehmen und sie glücklich machen.
Vielleicht haben die Schläger das damals auch nur etwas falsch verstanden, denn sie machten mich lediglich runter, nahmen mein Taschengeld und machten mich unglücklich.
Wenn ich so darüber nachdenke, hatten die frühen 90er doch vielleicht viel mehr vom November, als ich dachte. Vielleicht waren die unmittelbar folgende Melancholie und schwermütige Grunge-Musik die einzig richtige Antwort auf die glitzernde Funkelwelt freidrehender Hedonismen. Vielleicht sollten wir alle zwischendurch einfach mal ein bisschen weinen.
Oder wenigstens den Novemberregen von unserer Nasenspitze tropfen lassen. Einfach, weil es schön ist. Und denkt dran: Wenn ich das sage, dann ist das given.
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