Gemeinsame Werte gelten als Kitt, der die Gesellschaft zusammenhalten soll. Doch wie lässt sich ihre Gültigkeit beglaubigen? Oder kann man sie unhinterfragt voraussetzen? Zwei Premieren im September, die unterschiedlicher nicht sein könnten, machen die Probe aufs Exempel.
Es ist eine Parabel von alttestamentarischer Wucht, die Lars von Trier 2003 verfilmt hat. „Dogville“ zitiert Brechts „Seeräuber-Jenny“ und Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ und ist von einer geradezu theaterhaften Studiokargheit mit einer aufgemalten Straßen- und Häusertopographie geprägt. Die junge Grace scheint die Unschuld in Person, als sie in dem kleinen Städtchen Dogville auftaucht. Der Schriftsteller Tom versteckt sie vor Gangstern, die sie verfolgen, und stellt sie schließlich der Dorfgesellschaft vor. Mühsam überredet er die Bewohner des kleinen abgelegenen Fleckens in den Rocky Mountains, die junge Frau aufzunehmen. Die Skepsis der Dörfler soll Grace dadurch entkräften, dass sie arbeitet. Sie verrichtet kleine Hilfsdienste, schließt sogar Freundschaften, Tom gesteht ihr schließlich seine Liebe. Als die Polizei jedoch mit einem Steckbrief auftaucht, kippt die Stimmung.
Aus Arbeit wird Plackerei, die Schikanen häufen sich, sexuelle Nachstellungen sind an der Tagesordnung. Grace wird zum Opfer, ihre Zuflucht zur Passionsstätte. Trotzdem hält sie am Glauben, an Nächstenliebe und Vergebung fest, selbst als sie an ein Wagenrad gekettet systematisch vergewaltigt wird. Erst als ihr Vater, ein großer Gangsterboss sie schließlich aufspürt und ihre hehren Ideale an dem Verhalten der Dorfbewohner misst, gibt sie den Befehl, alle Bewohner zu töten und das Dorf dem Erdboden gleichzumachen. Der junge Regisseur Bastian Kraft inszeniert Lars von Triers düstere Allegorie über die Verkommenheit des Menschen am Schauspiel Köln.
„Von der Tugend“, „Von der Freiheit“, „Von der Anmut“, „Von der Schwermut“ – so sind die insgesamt vierzig Kapitel in Navid Kermanis Buch „Vierzig Leben“ aus dem Jahr 2004 überschrieben. Begriffe, die die Zentnergewichte der Ethik mit sich schleifen und vor denen man erst einmal den Kopf einzieht. Doch die kurzen Kapitel, hervorgegangen aus Zeitungs-Kolumnen, tragen ihre Überschriften eher wie die Umschreibungen einer Speisekarte. Das, was dann serviert wird, ist in seiner lapidaren, alltäglichen, lebensweltlichen Materialität ganz aus dem Hier und Jetzt entnommen. Da gibt ein Vater seinem Sohn den Vornamen Egon, ohne auch nur im Geringsten an die Folgen zu denken. Ein junger Mann wiederum kann Wochen damit verbringen, einen einzigen Flug zu buchen.
Eine Wissenschaftlerin, die mit dem Leiter einer Berufungskommission schläft. Es sind Geschichten, die aus den banalen Niederungen des Alltags stammen und nicht aus dem Schatzkästlein der Lebensethik. Doch gerade aus dem Zusammenstoß mit philosophischer Reflexion schlägt Kermani den Funken einer Epiphanie. Dass sein Personal fast durchweg in Köln zuhause ist, macht das Bändchen natürlich auch zu einem Muss für die Kölner Bühnen. Heinz Simon Keller bringt „Vierzig Leben“ im Theater der Keller erstmals auf die Bühne.
„Dogville“ | R: Bastian Kraft | 5.9. (P) 19.30 Uhr | Schauspiel Köln |0221 221 284 00
„Vierzig Leben“ | R: Heinz Simon Keller | 5.9. (P) 20 Uhr | Theater der Keller | 0221 27 22 09 90
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