Eine Mutter bringt ihre Zwillinge aufs Land, weil sie in der Stadt nicht mehr sicher sind. Es ist Krieg und sie sollen bei der Großmutter unterkommen. Tommaso Tessitoiri und Laura Pietjou stehen vor dem Publikum mit neugierigem, aber auch herausforderndem Blick, der einiges ahnen lässt.
Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“, den das Performer:innen-Duo des tt-Theater in der Orangerie auf die Bühnen bringt, ist von einer stupenden Aktualität. Obwohl 1986 erschienen, wirkt der Plot hochaktuell, nicht nur des Kriegs wegen. Die beiden Jungen erfinden für sich eine völlig eigene Welt und absolvieren Übungen, die sie in einem großen Heft notieren. Sie verpflichten sich, die Welt nur anhand von Fakten zu beschreiben, ohne jede Wertung oder Gefühl. Sie härten sich gegen die Schläge der Großmutter ab, üben sich in Grausamkeit, indem sie Tiere brutal quälen.
Tessitori und Pietjou schlagen sich, sie krümmen sich auf dem Boden – und berichten mit fast stoischer Ruhe von den Exerzitien. Im Hintergrund der kleinen schwarzen Kammer vibrieren und zerfließen die projizierten Umrisslinien von zwei weißen Quadraten immer stärker – man könnte sagen, was hier erschüttert wird, ist die moralische Quadratur menschlicher Existenz. So geht es weiter durch Sodomie, Pädophilie, Mord, über die die beiden ohne jede Empathie oder Abscheu berichten. Zugleich entsteht ein merkwürdiges Reich jugendlicher Selbstermächtigung und Selbstbestimmtheit. Darin liegt letztlich die Irritation. Dass man sofort die Verrohung des Krieges assoziiert, ist nur ein Aspekt dieses großen Textes, den das tt-Theater in einer tief berührenden Interpretation auf die Bühne bringt.
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