Ein Steinzeitmensch wirft einen Knochen in die Luft, mit dem er soeben einen Artgenossen erschlagen hat. Schnitt. Aus dem trudelnden Knochen wird ein tanzender Satellit im Weltall. Stanley Kubricks legendäre Prologmontage aus „2001: A Space Odyssey“ verdichtet archaische Gewalt, edles Streben und das kreative Potenzial unserer Art über drei Millionen Jahre hinweg. Der Science Fiction-Klassiker läuft 1968 im Kino. Ein Jahr später vernetzt man in den USA Uni-Großrechner. Zwanzig Jahre darauf soll das Internet kommerziell erschlossen werden: Webbrowser, IP-Adressen, digitale Revolution. Es braucht keine weiteren drei Millionen Jahre, sondern lediglich drei Dekaden, um den sehnsüchtig in den Weltraum gerichteten Blick des Menschen wieder umzukehren – nach unten, in die unendlichen Weiten seines Smartphones.
Ich glaube nur das, was ich sehen will
Mit dem Display vor der Nase läuft der zivilisierte Mensch heutzutage gegen Laternenpfähle und überfährt andere mit dem Auto. Gläserne Smartphone-Junkies klicken sich degeneriert durchs Netz auf der Jagd nach Schnäppchen und Bestätigung. Zombies statt Entdecker? Stumpfsinn statt Erweckung? Duell statt Diskurs? Was entwächst der digitalen Revolution? Der Steinzeitmensch 2.0? Nun, nicht zwingend, denn das Netz bietet zugleich mannigfach Inspiration, Hilfe und Erkenntnis: Lexika, Tutorials, Foren, Blickwinkel. So viele Möglichkeiten zu teilen, reifen, begreifen. Aber eben darin liegt auch die Crux: in den unendlichen Möglichkeiten. Möglichkeiten, sein Geld loszuwerden; Möglichkeiten – von Internet- bis Spiel- und Kaufsucht – digital zu erkranken; Möglichkeiten, unser Userverhalten auszuwerten, auf unsere persönlichen Daten zuzugreifen und uns mit dem daraus gewonnenen Wissen zu manipulieren. Wir wissen das – und wehren uns kaum. Nicht zuletzt, weil es uns überfordert. Und so verdrängen wir das Sperrige und suchen einfache Antworten, die uns am besten noch bestärken. Das Internet bestätigt jede Meinung, so wie es jede Haltung hinterfragt. Am Ende aber lese ich am liebsten das, was mir Recht gibt. Weil Logarithmen es mir vorsetzen, weil ich es so wünsche. Ich glaube nur das, was ich sehen will! Und damit sind wir bei den wertvollsten und zugleich verheerendsten Möglichkeiten, die die digitale Freiheit uns sekündlich kredenzt: Informationen.
Kubricks alter Knochen
Das Netz kann informieren – und desinformieren. Aus einem Werkzeug wird eine Waffe, wie einst aus Kubricks Knochen. Wenn Kreuz- und Querdenker Mumpitz aus dem Orbit für wahre Münze verkaufen und im Namen der Freiheit mit Nazis „den Reichstag stürmen“, bewaffnet vor demokratische Wahlämter ziehen oder mordend durch Gotteshäuser wüten – dann wird das Internet Brandschatzer. Was tun? Ganz einfach: Der Umgang mit Medien erfordert Medienkompetenz. Seit dreißig Jahren wird die Menschheit aufs Internet losgelassen – ohne Gebrauchsanweisung. Wir klicken uns rein und legen los. Unsere Kinder klicken sich rein und legen los. Es fehlt bis heute ein effizienter bildungspolitischer Ansatz, der den verantwortungsvollen Umgang mit (sozialen) Medien vermittelt. Zugleich kann sich aber jeder von uns eigenverantwortlich informieren, nicht zuletzt im Internet: die Aneignung von kritischer Distanz, Reflexion und einer, um es mit dem Philosophen Philipp Hübl auszudrücken, gesunden „Bullshit-Resistenz“ – digitale Mündigkeit! Das Internet ist gefährlich, und es bietet zugleich selbst die Lösung. Nur braucht es dazu mündige User. Mündige Bürger. Wer surfen will, nimmt Surfunterricht. Mündigkeit ist nicht bloß ein freiheitliches Selbstverständnis. Mündigkeit ist eine Kompetenz.
Teufelszeug - Aktiv im Thema
ec.europa.eu/taxation_customs/fair-taxation-digital-economy_de | Die Europäische Komission versammelt Vorschläge zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft.
www.ldi.nrw.de | Die Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit NRW informieren über ihre Aufgabe, die Einhaltung von Datenschutz-Vorschriften sowie den freien Zugang zu behördlichen Informationen zu gewährleisten.
www.ccc.de/de/netzneutralitaet | Einführung und weiterführende Links des Chaos Computer Club zur Forderung nach Netzneutralität, d.h. der Forderung, dass niemand darüber entscheiden soll, welche Daten im Netz zugelassen und welche gesperrt werden.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wissen könnte Macht sein
Intro – Teufelszeug
Ausgeträumt
Das anfangs wilde und freie Internet wurde von Monopolen domestiziert – Teil 1: Leitartikel
„Informationelle Selbstbestimmung außer Kraft“
Soziologe Dominik Piétron über die Macht der Digitalkonzerne – Teil 1: Interview
Videoüberwachung als Gefahr für unsere Freiheit
Die Initiative Kameras stoppen gegen Polizei-Kameras – Teil 1: Lokale Initiativen
Big Brother und die guten alten Zeiten
Braucht das Internet Aufpasser? – Teil 2: Leitartikel
„Wir warnen vor Selbstzensur der Medien“
Journalist Ingo Dachwitz über die Einflüsse des Google-Konzerns auf die Presse – Teil 2: Interview
Nachbar:innen gegen Videoüberwachung
Dortmunds Polizei baut in der Nordstadt die Kameraüberwachung aus – Teil 2: Lokale Initiativen
„Es fehlt online die nötige Skepsis“
Jurist Dennis Kipker über Datenschutz und Cybersicherheit – Teil 3: Interview
Wenn das Internet zur Sucht wird
Das Projekt Interface Extended soll exzessivem Internetkonsum entgegenwirken – Teil 3: Lokale Initiativen
Ein Like für Digitalsteuern
Madrid senkt den Daumen – Europa-Vorbild: Spanien
Digitaler Segen
Von wegen harmlose Katzenvideos – Glosse
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Wildern oder auswildern
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Durch dick und dünn
Teil 1: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 2: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?