Die Welt der Literatur ist gespickt mit exemplarischen Einzelschicksalen, die den Leser in ihren Bann ziehen, mitreißen in den Strudel der Ereignisse, die rund um und in und um die Protagonisten herum toben. Selbst banalste Ereignisse scheinen urplötzlich ein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. Man siehe sich nur den vermeintlich „gesettleten“ Provinzgetränkehändler Henri Quast an, dem sein neuer Fahrer, der undurchschaubare Ex-Fremdenlegionär und -Knacki Ante Quedens Nagel, von heute auf morgen den Boden unter den Füßen wegzieht. Oder wie soll man es deuten, wenn dieser dubiose Eindringling nicht nur ein Techtelmechtel mit der eigenen Affäre beginnt, sondern sich zugleich auch noch bei der Gattin zu Kaffee & Kuchen einlädt, während – im Zuge dessen – das Unternehmen den Bach runter geht? Doch die „Laus im Pelz“ (Plöttner) hat sich viel früher in Quasts Lebenswanst eingerichtet. Mäandernd, seinem schwerfälligen Antihelden gleich walzt sich Rainer Klis' kurzer Roman wie ein unheilvoller Strom dahin, an seiner dunklen Oberfläche immer wieder funkelnd: Reflexionen aus der Vergangenheit, welche die lang gehegten Bazillen von Quasts Willen- und Antriebslosigkeit zumindest erahnen lassen.
Mangelnden Ehrgeiz kann man David Peace' historischer Romanfigur hingegen nicht vorwerfen. Jedenfalls nicht in der Anfangszeit seiner Karriere. Als Fußballtrainer englischer Schule krempelt Brian Howard Clough zu Beginn der Siebziger das abgehalfterte Derby County komplett um, strickt es nach seinen Vorstellungen und führt es tatsächlich zu höchsten Meisterweihen – ehe ihn sein manischer Eifer in die Höhle des Löwen treibt: auf den Teammanagerposten des dereinst bittersten Rivalen, von Leeds „Damned United“ (Heyne), dem damaligen Bayern München der Premier League, und somit in die Fußstapfen des verhasstesten Trainerkonkurrenten Don Revie. Aus Selbstlosigkeit wird Selbstbesessenheit, die in dem Hass und Wahn einer ausgemachten manischen Depression und schließlich purer Selbstzerfleischung zu gipfeln droht. Ein rauschhaftes Portrait aus dem innersten Zirkel der Fußballhölle. Dass „Cloughie“ 1979 mit Nottingham Forest dann doch noch den heiß ersehnten Europapokal der Landesmeister gewinnen sollte, steht auf einem anderen Blatt.
Faszinierender, fesselnder sind nun mal die düsteren Seiten der irdischen Existenz. Sie bleiben haften, prägen, selbst wenn wir sie zu verdrängen trachten. Im Alter von zwölf Jahren, auf der Kippe von der Kindheit zur Jugend manifestieren sie sich gar als regelrechte Initiationserlebnisse, weswegen man Laabs Kowalskis „Totensommer“ (Satyr) ungestraft als Coming-of-Age-Roman kategorisieren darf. Atmosphärisch so dicht wie morbide, in einer Sprache von archaischer Schönheit, entfaltet der bis dato eher für seine halsbrecherischen Grenzgänge zwischen groteskem Klamauk und bukowskieskem Charme bekannte „Ruhrpott-Cowboy grenzdebiler Poesie“ diesmal eine tragisch-anrührende Love'n'Crime-Story: Unvermittelt bricht „Das Mädchen, das den Himmel nicht mochte“ (UT) samt seiner Familie in das Leben von Frank Adam, um ihn zugleich in ebendiesen wie auch in die Abgründe des Seins zu entführen. In einen Morast aus Treibsand, durch den einen auch die rotesten Gummistiefel nicht unbefleckt tragen.
Ist die eigene Persönlichkeit mitunter schon ein Fass ohne Boden, so kann Sergio Álvarez' heranwachsender Held nicht mal mehr auf den doppelten Boden aus Familie und Gesellschaft bauen. In Anlehnung an große pikareske Vorbilder von Sterne über Grass bis Rushdie und Irving werden wir bereits auf den ersten Seiten Zeuge, wie die sozialpolitischen Wirren im neuzeitlichen Kolumbien noch vor der Geburt seinen leiblichen Vater und während dieser seine Mutter dahinraffen. Summa summarum stehen am Ende dieses Opus Magnum traurige „35 Tote“ (suhrkamp), aufgefangen von einer leichtfüßig Kapriolen schlagenden Fabulierfreude, welche die leidenschaftliche Melancholie und die ungeheure Kraft eines gebeutelten Volkes, speziell seiner Jugend besingt. Wider aller Bodenlosigkeit.
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