Ein Highlight 2015 war der Friedensnobelpreis für das „Quartet du dialogue national“, dem tunesischen Dialogquartett, dem der allgemeine Arbeiterbund (UGTT, Union Générale Tunisienne du Travail), der Verband für Industrie, Handwerk und Handel (Utica, Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat), die tunesische Menschenrechtsliga (LTDH, Ligue tunisienne des droits de l'homme) und die Tunesische Rechtsanwaltskammer (Ordre National des Avocats de Tunisie) angehören. Nach den geradezu törichten Preisverleihungen an US-Präsident Barack Obama (2009) und die EU (2012) ein politisch geradezu anregender Preisträger. Das Quartett gab dem sich in einer Sackgasse befindlichen verfassungsgebenden Prozess nach der Jasmin-Revolution neue, zivilgesellschaftliche Impulse. Das Nobelkomitee äußerte in seiner Begründung die Hoffnung, dass der Preis Tunesiens Weg zur Demokratie sichern werde. Der Preis solle aber auch „Ansporn für alle sein, die Frieden und Demokratie im Nahen Osten, Nordafrika und im Rest der Welt voranbringen wollen“. Anders als beispielsweise in Ägypten verhinderte kein Putsch – das Militär ist traditionell eher schwach in Tunesien – die Machtübernahme von Islamisten, sondern zivilgesellschaftliche Organisationen – die in Tunesien wiederum wesentlich stärker sind als in allen anderen arabischen Ländern.
Nach dem Sturz von Diktator Ben Ali gingen im Oktober 2011 die „gemäßigten“ Islamisten von Ennahda bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung mit 37 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Als „gemäßigt“ gelten sie, weil sie vorgaben, eben keinen Gottesstaat zu wollen, wie die Muslimbrüder in Ägypten. Entgegen der eigenen Propaganda, versuchte Ennahda aber ihre reaktionären Ideen in der Verfassung zu verankern: Komplementarität statt Gleichheit von Frauen und Männern, die Scharia sollte doch als Rechtsquelle herhalten und religiöse Institutionen sollten über den Gesetzgebungsprozess wachen. Es waren Forderungen dieser Art, die jeden Kompromiss mit der eher säkularen Opposition vereitelten. Und so schleppte sich der verfassungsgebende Prozess, der eigentlich auf ein Jahr angelegt war, hin. Die Verzögerung ließ Ennahda nicht ungenutzt und besetzte die Institutionen des Staats mit eigenen Leuten. Doch mit den politischen Morden an den beiden linken Oppositionspolitikern Chokri Belaїd und Mohamed Brahmiim Februar und Juli 2013 sah sich Ennahda Hunderttausenden auf den Straßen Tunesiens gegenüber.
Das Land stand vor einer Zerreißprobe. Ein Bürgerkrieg war nicht ausgeschlossen, als der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT erklärte, dass für ihn die von Ennahda dominierte Regierung nicht mehr existiere. Aus der Mitte der Gesellschaft formierte sich das Dialogquartett und zwang die Regierung im September 2013 an einen Runden Tisch. Bereits im Oktober 2013 stand die sogenannte „Road Map“, die den Weg zur neuen Verfassung absteckte und im Februar 2014 in die fortschrittlichste Verfassung der gesamten arabischen Welt mündete. Sie garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, sowie die Gleichstellung von Mann und Frau. Auf der „Freedom Map 2015“ der US-amerikanischen NGO Freedom House ist Tunesien das einzige freie Land in der gesamten arabischen Welt. Alle anderen Länder – bis auf Marokko, das als teilweise frei gilt – gelten entweder als „unfrei“ oder fallen in die Kategorie „Worst of the Worst“ – bezeichnenderweise sind das das vom Bürgerkrieg erschütterte Syrien und das vom Westen hofierte Saudi-Arabien. Selbst Ennahda zog positive Lehren aus dem Prozess: Nach der verlorenen Parlamentswahl im Oktober 2014 ging die Partei ohne großes Tamtam in die Opposition.
Dennoch, in trockenen Tüchern sind Demokratie und offene Gesellschaft noch lange nicht. Die Anschläge im vergangenen Jahr auf Touristen oder jüngst der Selbstmordanschlag auf die Präsidentengarde im Stadtzentrum von Tunis machen die prekäre Sicherheitslage deutlich. Und sie treffen das von Arbeitslosigkeit gebeutelte Land schwer, was eine fatale Entwicklung zur Folge hat. Ohne wirtschaftliche Impulse, ohne eine Verwaltungsreform wird es keine Perspektive für junge, oft gut ausgebildete Menschen geben. Im besten Fall werden dann auch aus Tunesien weiter Menschen den Weg nach Europa suchen. Im weitaus schlimmeren schließen sie sich den rund 6000 tunesischen Kämpfern – bei weitem das größte ausländische Kontingent – in den Reihen des Islamischen Staats an. Zynischer Weise sorgt „Daesch“ nämlich für die Familien der Kämpfer, während der Westen nicht mehr als gut gemeinte, idealistische Unterstützung in Form des Friedensnobelpreises bietet. Und das ist beileibenochzu wenig für ein freies, demokratisches und fortschrittliches Tunesien.
Aktiv im Thema
wuppertal-tabarka.de | Verein zur Förderung der Städtefreundschaft zwischen Wuppertal und Tabarka und Umland
www.deutsch-tunesische-gesellschaft.de | Bilaterale Freundschaftsgesellschaft mit der arabischen Welt
www.funkhauseuropa.de/sendungen/refugeeradio | Nachrichtensendung von Funkhaus Europa in Englisch und Arabisch
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