Otello ist auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn: Er ist Feldherr und für die Staatsmacht Venedigs unersetzbar, ein Aufsteiger, der es mit seinem Können als Krieger geschafft hat, sich in der Hierarchie des Militärs von ganz unten nach oben zu arbeiten. In der Gesellschaft ist er wegen seiner schwarzen Hautfarbe Ressentiments ausgesetzt, als Mensch bleibt er der Fremde, „der Wilde“: Er leidet unter seinem Anderssein und fühlt sich minderwertig. Seine Sehnsucht, als Mensch angenommen zu sein, erfüllt sich in der Verbindung mit Desdemona, ihre bedingungslose Liebe gibt ihm Selbstvertrauen.
Jago, der von seiner Frau hintergangen und von Otello in der Beförderungshierarchie übergangen wird, kennt selbst das Minderwertigkeitsgefühl nur zu gut, und deshalb gelingt es ihm mit seinen brillanten analytischen Fähigkeiten, die verborgenen Ängste Otellos zum Ausbruch zu bringen: Er säht den Keim des Zweifels an Desdemonas Treue, schürt Misstrauen und Angst Otellos, ihrer nicht wert zu sein und sie an einen anderen zu verlieren. Otello wird zum Opfer Jagos, verliert zunehmend die Kontrolle über sich selbst bis hin zur psychischen Abhängigkeit. Jago spielt seine Macht über ihn skrupellos aus, manipuliert ihn und versteckt sich hinter Andeutungen, ohne selbst als Person fassbar zu sein: ein Menschenzerstörer, der seine destruktive Kraft als lustvoll empfindet, was ihm psychopathologische Züge verleiht. Er ist unfähig, Empathie zu empfinden, die für ihn Kontrollverlust und somit Schwäche bedeutet. Die Erniedrigung eines anderen hingegen steigert sein verletztes Selbstwertgefühl bis hin zum Allmachtsgefühl.
Verdi faszinierten die seelischen Abgründe Jagos derart, dass er die Oper zunächst nach ihm benennen wollte. In dem blasphemischen Credo, das es bei Shakespeare nicht gibt, zeichnet der Komponist den charakterlichen Zerfall Jagos in der Auflösung musikalischer und harmonischer Strukturen nach. Hier offenbart sich, was Jago in seinem Innersten antreibt: Die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Der Tod ist das definitive Ende, danach kommt das Nichts. Auch er ist ein zutiefst Enttäuschter, der allein die Zerstörung als vitale Kraft empfindet.
Aus Scham schreckt der vermeintlich entehrte Otello vor einer Aussprache mit Desdemona zurück. Statt nach Klärung zu suchen, demütigt er sie mit brutalem Machismo in aller Öffentlichkeit. Die Ressentiments, die die Gesellschaft ihm als Schwarzen entgegenbringt, finden nun auf fatale Weise ihre Bestätigung: Desdemona, die weiße unschuldige Frau aus besten Kreisen wird zum Opfer des „Wilden“, des Underdog. Die junge, unerfahrene Frau nimmt alles hin und verwechselt Hingabe mit Selbstaufgabe, sie blendet die enttäuschende Gegenwart aus und hofft, dass sich alles zum Guten wendet. Ihr Verhalten deutet Otello als Schuldeingeständnis, er will sie dort zurichten, wo sie ihm vermeintlich untreu war: Im Hochzeitsbett erwürgt er sie. Zu spät erkennt Otello die teuflische Intrige Jagos: Sein Leben und seine Liebe sind zerstört, für ihn gibt es nur einen letzten verzweifelten Ausweg: Er ersticht sich neben Desdemona.
Die Uraufführung von Verdis vorletzter Oper im Februar 1887 an der Mailänder Scala wurde zu einem triumphalen Erfolg. Seit der Uraufführung von „Aida“ 1871 hatte Verdi kein größeres Werk mehr komponiert und die Schaffenspause ließ ihn zu einer neuen, von Wagner beeinflussten durchkomponierten Musiksprache finden, die ihn weg vom rein Musikalischen hin zum charakteristisch Dramatischen führte. Unaufgelöste Dissonanzen, chromatische Melodieverläufe und entfernte harmonische Fortschreitungen zeichnen Otellos Persönlichkeitszerfall und Jagos innere Zerrissenheit nach. Der musikdramatische Ausdruck scheut vor dem Hässlichen und Zersetzenden nicht mehr zurück und bezieht den Missklang mit ein. Die Zeit des Belcanto ist endgültig vorbei.
„Otello“ | 30.5. 19.30 Uhr, 1.6. 18 Uhr | Oper am Dom, Köln | 0221 221 284 00
„Otello“ | 7., 10., 25., 27.6 u. 2.7. 19.30 Uhr | Theater Hagen | 02331 207 32 18
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Tödliches Verlangen nach Liebe
Richard Strauss‘ Oper Salome – Opernzeit 11/18
Oper als Befreiungskampf
„Attila“ von Giuseppe Verdi – Opernzeit 01/17
Der Weg zur Freiheit
Phil Glass Gandhi-Oper Satyagraha – Opernzeit 07/13
Das Meer spiegelt die Gefühle
„Billy Budd“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen – Oper in NRW 03/23
Des Seemanns Apokalypse
„Der fliegende Holländer“ an der Oper Köln – Oper in NRW 03/23
Verblendete Väter
„Luisa Miller“ an der Oper Köln – Oper in NRW 02/23
Auf dem Weg zum Tode
„La Traviata“ an der Oper Wuppertal – Oper in NRW 02/23
In neuem Licht
Das Aalto-Theater zeigt Verdis „Simon Boccanegra“ – Oper in NRW 01/23
An der Quelle der Macht
„Agrippina“ am Theater Bonn – Oper in NRW 01/23
Triumph der Güte
„La Cenerentola“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/22
Liebe in der Puszta
Operette „Gräfin Mariza“ in Dortmund – Oper in NRW 12/22
Verkannte Liebe
„Der Zwerg / Petruschka“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/22
Unstillbare Faszination
„Der fliegende Holländer“ in Duisburg – Oper in NRW 11/22
Überwältigender Raumklang
„Intolleranza 2022“ an der Oper Wuppertal – Oper in NRW 10/22
Liebe unter Engeln
„Asrael“ in der Oper Bonn – Oper in NRW 10/22
Liebe und Göttliche Aufträge
„Les Troyens“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/22
Magie des Puppenspiels
„Die Zauberflöte“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 08/22
Wenn die Lippen schweigen
Franz Lehárs „Lustige Witwe“ im Operhaus Wuppertal – Oper in NRW 08/22
Garküche und Volkskongress
„Li-Tai-Pe“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 07/22
Liebe ist unausrottbar
„Krabat“ am Musiktheater im Revier – Oper in NRW 07/22
Im Stil der Commedia dell‘arte
„Il Barbiere di Siviglia“ an der Oper Köln – Oper in NRW 06/22
Der Klang der Straße
„Nordstadtoper“ in Dortmund – Oper in NRW 06/22
Shakespeare trifft auf Berlioz
„Béatrice et Bénédict“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/22
Sympathy for the Devil
„Der Meister und Margarita“ an der Oper Köln – Oper in NRW 04/22
Eine Oper für Napoleon
„Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ in Dortmund – Oper in NRW 04/22