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Jackie Thomae, Heike Melba-Fendel und Anke Stelling
Foto: Rebecca Ramlow

Zwischen den Stühlen

12. Oktober 2018

#MeToo-Lesung von Jackie Thomae und Anke Stelling im Literaturhaus – Literatur 10/18

Als ich an diesem Abend ins Literaturhaus gehe, verspüre ich ein leichtes Pieksen in der Magengegend. Der Grund: Das Thema „#MeToo“ interessiert mich sehr wohl schon. Wen betrifft es auch nicht? Es ist auch ganz wichtig, darüber zu sprechen. Aber die Ankündigung, es gäbe eine Anthologie, die das Thema „anpackt“, klingt für mich zunächst ein bisschen bedrohlich. Fast wie ein Tierlexikon meines Sohnes oder auch ein Sachbuch über Dinosaurier. Die Frage, die ich mir stelle, ist: (Wie) kann man die seit jeher existierenden und viele Menschen betreffenden Themen Sexismus und  Missbrauch in ein literarisches Lexikon stopfen? Und, ist das nicht übergriffig? Was kommt auf mich zu? Dann beruhige ich mich sehr schnell, da die Autorinnen Anke Stelling und Jackie Thomae sehr sympathisch wirken und die Moderatorin, die Unternehmerin, Autorin und Journalistin Heike Melba-Fendel, dem Aufschrei „#MeToo“ gleich zu Beginn die Dramatik aus den Segeln nimmt: „#MeToo“ sei sehr komplex, sehr ambivalent, so Melba-Fendel, die ebenfalls mit einem Text in der Anthologie vertreten ist.

„Es ist auch eigentlich keine Debatte, sondern ein Hashtag“, meint sie. „Die eigentliche Debatte folgte erst danach.“ Dieser Abend solle ein Diskurs aus literarischer Sicht sein. Es ginge dabei gar nicht unbedingt um Missbrauch oder Vergewaltigung oder darum zu sagen: Du bist der klare Schuldige, ich das Opfer. Eher gehe es um Sex sowie um Machtstrukturen. Darum geht es auch in der von einer resoluten Frau, Lina Muzur, „angepackten“ Anthologie mit dem Titel: „Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht“ (erschienen bei Hanser Berlin), in der u.a. auch Margarete Stokowski und Nora Gomringer zu Wort kommen.

Ein Blick durch den Raum verrät, dass es an Männern ein wenig mangelt in diesem abendlichen Diskurs. Schade. Ebenso könnte man jetzt aber auch argumentieren, dass in „Sagte sie“ ebenfalls keine männlichen Autoren vertreten sind, was auch später bei der regen Diskussion angemerkt wird.

Fortan bewegt sich der Abend zwischen einem Auszug aus einer tragischen Geschichte einer von rassistischen und Kinder hassenden Nachbarn umzingelten, krisengeschüttelten Familie, in der alle unzufrieden sind, von Anke Stelling (Jahrgang 1971), die von den Nachbarn angefeindet wird mit Worten wie „trotz dunkler Haut und Penis“. „Familien sind immer heikel“, so Stelling, die sich als Beobachterin sozialer Strukturen sieht und ihr literarisches Augenmerk auf Verstrickungen von Machtstukturen legt. Ferner geht es um pseudoliberale Freunde, die nicht mehr für einen da sind, sobald man Kinder und/oder Probleme hat, um Anpassung und um Affektkontrolle. Stelling, die schon mit ihrem Roman „Fürsorge“ (2017), in der eine körperfixierte Mutter ein moralisch verruchtes Inzest-Verhältnis mit ihrem Sohn beginnt, den sie zunächst verlassen hat, und mit dem kritischen Prenzlauer-Berg-Mama-Roman „Bodentiefe Fenster“ (2015) für Aufsehen sorgte, stellt die berechtigte Frage: Warum wird die Kleinfamilie wieder zur einzig vernünftigen Form des menschlichen Zusammenlebens überhöht?

Sowie einer schlechten, peinlich detailliert beschriebenen und deswegen umso berührenderen Sexszene der Autorin Jackie Thomae (Jahrgang 1972), die es als Frau – man mag es kaum glauben – wagte, „Geht so“-Sexmomente zu notieren, was auch der Grund dafür war, weshalb sie und ihre Geschichte in die Anthologie wanderten. So verspürt die Protagonistin, die sich sehr lange auf diesen einen innigen Moment der Intimität gefreut hat, „genau in diesem Augenblick jedoch ein starkes Unwohlsein: ‚Alles war viel zu organisch.‘“ Angeekelt: „Seine Kampflippen.“ Fast ebenfalls organisch nimmt die Autorin dabei den brachialen Sexakt auseinander.

An späterer Stelle kritisiert Thomae, die in ihrem Debütroman „Momente der Klarheit“ (erschienen 2015 bei Hanser Berlin) den Schwerpunkt unromantischerweise auf das Ende romantischer Beziehungen und den Moment des Sich-Trennens legt, die aus ihrer Sicht zu einseitige Debatte um #MeToo und die fatale Schizophrenie, in der Frauen sich heute befänden: Einerseits werde Frauen stets eingebläut, sie sollten gut aussehen. Andererseits gäbe es diese, teilweise fast schon hysterische, Debatte um #MeToo mit dieser offenen Wundlegung: „Schaut her: Ich habe gelitten. Man hat mir Leid angetan.“

Und wiederum ganz konfus und unpassend dazu die noch immer sehr stark ausgeprägte Priorität bei Frauen, unbedingt heiraten zu wollen. Warum ist das immer noch das höchste Ziel? Kurzum: Was wollen Frauen und Männer heute eigentlich? Was dürfen sie angesichts des berechtigten Aufschreis #MeToo und wenn in skandinavischen Ländern jetzt schon Verträge vor dem (un)einvernehmlichen Sex unterschrieben werden müssen? Welche Romantik bleibt da erhalten? Und wie konträr leben Frauen zu den eigentlichen, schon in den späten 60ern angestrebten Zielen in puncto Gleichberechtigung?

Schließlich entfacht eine rege Anschlussdiskussion, einschließlich Tipps im Umgang mit sexuellen Übergriffen, sowie der Kritik, warum es nicht wirklich um Missbrauch in dieser Lesung ginge. Ganz unberechtigt ist diese Kritik nicht, denn jenseits dieser wenn auch durchaus starken Literatur über Sex, Macht- und Beziehungsstrukturen, stellt sich auch mir bisweilen die Frage: Aber es gibt doch nun mal wirklich Menschen, die tatsächlich missbraucht, die konkret sexuelle Gewalt erlebt haben, die mit täglicher Angst zu kämpfen haben – wo kommen diese Menschen zu Wort?

Schließlich gibt es dann doch noch einen berührenden Text von Heike Melba-Fendel selber, der unter die Haut geht. Die Reaktion auf diesen, wenn man genau zugehört hat, sehr wohl sexuellen Missbrauch beinhaltenden Text ist Stille beim Publikum. Das wiederum zeigt das Dilemma: Geht es um Machtstrukturen, können wir alle viel mitreden. Geht es jedoch um konkreten Missbrauch, schweigen viele.

Anhand der Diskussion wird deutlich, dass jeder auf seine individuelle Weise etwas mit dem Thema verbindet und dass es keine eindeutige universelle Lösung in dieser bereits seit Urgedenken existierenden Angelegenheit – Sexismus – gibt. Dass sowohl Frauen als auch Männer davon betroffen sind. Einer der wenigen anwesenden Männer fliegt tatsächlich zwischendurch beinahe vom Stuhl, weil er sich während der Diskussion wohl zu weit an die Lehne der vor ihm sitzenden Person gelehnt hat. Eine Art kafkaeske Verwandlung der von ihm benannten Hilflosigkeit als Mann im Hier und Jetzt, der, wie er sagt, versucht, zuhause das klischeebesetzte Rollenbild von Mann und Frau zu mildern und anzugleichen, aber auch zwischen allen Stühlen sitze und manchmal nicht wisse, wie er sich ganz genau verhalten solle.

Fazit: #MeToo oder Sexismus sind viel komplexer als Mann oder Frau denkt. #MeToo beginnt nicht erst beim Übergriff, sondern bereits zuvor und betrifft uns alle. Und: Sexismus betrifft nicht nur Frauen. Ich traue mich zum Thema #MeToo nach diesem Abend zumindest journalistisch nichts mehr zu sagen, weil es mir übergriffig erscheint.

Lina Muzur (Hg.): Sagte sie. 17 Geschichten über Sex und Macht | Hanser | 224 S. | 20 €

Rebecca Ramlow

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