Mal beginnt es mit einem Jucken in den Zehenspitzen, mal mit einem nicht mehr zu verhehlenden Grummeln in der Magengrube. Mal ist es pure Abenteuerlust, mal die unendliche Suche nach einem irgendwie gearteten Sinn, dann wiederum schiere Notwendigkeit, ausgelöst vom Überlebenstrieb zur Befreiung von körperlicher und/oder geistiger Pein. Raus, bloß raus hier. Einfach weg, woanders hin. Dorthin, wo noch Versprechungen und Verheißungen warten (könnten). Da spielt es schon fast keine Rolle mehr, was tatsächlich am Ende der Reise steht beziehungsweise dass eine solche nie zu Ende geht.
Klassischstes Beispiel ist der im 19. Jahrhundert ansetzende Strom über den Großen Teich. Neben den vom Elend Getriebenen an Bord der Überseedampfer: Glücksritter à la Benjamin Knowles. Natürlich könnte auch der junge Blaublüter auf die herrschenden Umstände in der Alten Welt verweisen, die seinen demo- wie technokratischen Ideen zuwider laufen und nicht zuletzt seinen besten Freund auf dem Gewissen haben. Und doch ist sein Wunsch, „Neuland“ (Blessing) zu betreten, vornehmlich der Gier nach Abenteuer, Leben, Freiheit, unbegrenzten Möglichkeiten geschuldet. In epischer Breite lässt Kurt Andersen die sich gerade neu erschaffende Welt auferstehen, die Knowles von der Halbwelt New Yorks bis ins vom Goldrausch geprägte Kalifornien durchläuft. Allein: Seine Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, heftet sich in mörderischer Absicht an seine Fersen.
Geschichten, die die Vergangenheit schreibt – deren Fährte wiederum nachgeborene Spurenleser aufnehmen. Die aufgelesenen Kapitel entpuppen sich jedoch mitnichten immer als glückselige Heldensagen. So stößt der Enkel eines vor 60 Jahren in Patagonien verschollenen deutschen Exilanten in Guido R. Schmidts Reiseroman „Woher der Wind weht“ (Nautilus) nicht nur auf die atemberaubende Schönheit eines monumental-kargen Landstrichs, sondern auch auf die heute noch spürbaren Auswüchse einer Diktatur des Grauens, in der aufrichtige Menschlichkeit mit dem Tod bezahlt wurde. Eine vernichtende Erfahrung, die Karibik- insbesondere Haiti-Spezialist Hans Christoph Buch auch auf dem „Schwarzen Kontinent“ immer wieder gemacht hat. Schonungslos deckt er in seinen Essays zur „Apokalypse Afrika“ (Eichborn/Andere Bibliothek) den „Schiffbruch mit Zuschauern“ (so der Untertitel) auf, den diese Erdenregion im Zuge oder als Folge ihrer kolonialen „Erziehung“ erleidet. Szenerien von traurig-grotesk bis morbide-real, so dass man sich wundert, dass die Bevölkerung nicht schon längst ihren letzten Funken Überlebenswillen eingebüßt hat.
Mindestens genauso erschreckend aber ist, dass es ihnen woanders auch nicht besser erginge. In bitterer Ironie verweist der kanadische Exil-Libanese Rawi Hage seinen Protagonisten an eine betörende Psychologin, der er zwischen absurder Wahrheit und gläserner Fiktion changierend sein Schicksal als Müll schluckende „Kakerlake“ (Piper) in einer verfetteten Gesellschaft vor die Füße wirft: garstig-deliriös und unweigerlich eruptiv-eskalierend.
„Hal – lo!?“, muss man unwillkürlich in der grundsätzlichsten aller Erkenntnisse ausrufen, „sind wir nicht alle Menschen?!“ Vielleicht sollte man all die Verteidigungsminister und Bewahrungspräsidenten unseres wohlkultivierten Wohlstands einmal auf sich selbst zurückgeworfen in den scheinbar nur von insektoiden Schmarotzern bevölkerten Restwelten aussetzen, auf dass sich bei ihnen wenigstens ein paar der erhellend menschlichen Einsichten einstellten, die sich bei Hans Herbsts „Zwischen den Zeilen“ (Pendragon) oder vielmehr in jeder Zeile seiner staubtrockenen Reisestories finden. Von einem der nicht untergehen will. Über diejenigen, die ebenfalls nicht untergehen wollen, auf die aber keine Arche wartet. Weder hier, noch in sich selbst, noch woanders.
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