Am bedrohlichsten ist der Fremde, wenn er gar nicht da ist. In Sachsen zum Beispiel leben bekanntlich kaum Flüchtlinge, nichtsdestotrotz fürchten die Pegidisten, die ideologischen Fußpfleger des gesunden Volksempfindens, nichts mehr als die sogenannte Überfremdung. Alles nur eine Frage der Projektion. Auch bei den beiden Ehepaaren in Philipp Löhles Stück „Wir sind keine Barbaren!“. Barbara und Mario sowie Sara und Paul gehören zur Klasse der veganen Milchaufschäumer. Sie sind integraler Teil des Mittelstandsbauchs, aber eher an der seitlichen Speckfalte angesiedelt, Kategorie Akustikdesigner, Fitnesstrainerin oder Köchin. Und plötzlich kommt Bobo (auch Flint genannt) ins zivilisationsgesättigte Spiel, allerdings ohne jemals die Bühne zu betreten. Weil dieses dunkelhäutige Phantasma einfach nicht leibhaftig erscheinen will, lässt es alle billigen Ängste und derben Sehnsüchte hemmungslos ins Kraut schießen. Und ein „Heimatchor“ untermalt das boulevardeske Pingpong neudeutscher Mittelstandsbefindlichkeiten mit seinen ausländerfeindlichen Parolen. Am Theater der Keller in Köln inszeniert Steffen Jäger, der bisher vor allem am Schauspielhaus Wien, Deutschen Theater Göttingen oder dem Vorarlberger Landestheater gearbeitet hat.
Was waren das für Zeiten, als die Barbaren nicht gleich in Horden die Festung Europas zu stürmen versuchten, sondern der vermeintliche europäische Zivilisationskrieger ihnen einen kolonialen Besuch abstattete. Zum Beispiel der Elfenbeinhändler Mr. Kurtz, der im kongolesischen Dschungel einen eigenen Staat errichtet haben soll, in dem er mit gottgleicher Macht und brutaler Härte über die Einheimischen herrscht. Er ist längst zu einem Mythos geworden, als der Seemann Marlow in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ sich aufmacht, den mysteriösen Verschollenen zu suchen. Die Erzählung vom Ende des 19. Jahrhunderts bildet den Ausgangspunkt für Jan-Christoph Gockels neues Projekt am Theater Bonn. Gockel hat sich Anfang letzten Jahres unter dem Titel „Kongo Müller“ in Stuttgart bereits mit dem deutschen Söldner Siegfried Müller auseinandergesetzt, der in den 1960er Jahren mordend durch den Kongo zog.
Der Plot um das sagenhafte Reich in der Fremde ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, schon Shakespeare spielt in seinem Stück „Der Sturm“ mit dem Gedanken der absolutistischen Willkür-Herrschaft eines Europäers in einem fernen Land. Als rechtmäßiger Herrscher über Mailand ist Prospero von seinem Bruder Antonio verdrängt worden. Zuflucht findet er auf einer einsamen Insel, auf der er den Eingeborenen Caliban samt den dort herrschenden Geistern seiner Macht unterwirft. Mit ihrer Hilfe entfesselt er einen Sturm, der das Schiff Antonios am Ufer der Insel stranden lässt. Intrigen, Protest und eine große Liebesgeschichte können nicht ganz verdecken, dass auch Prosperos Herrschaft koloniale Züge trägt. Volker Hesse nimmt sich Shakespeares spätes Stück in Düsseldorf zur kritischen Brust.
„Wir sind keine Barbaren!“ | R: Steffen Jäger | Theater der Keller | 13.3.(P) 20 Uhr | 0221 27 22 09 90
„Herz der Finsternis“ | R: Jan-Christoph Gockel | Theater Bonn | 23.4.(P), 26.4. 19.30 Uhr I 0228 77 80 08
„Der Sturm“ | R: Volker Hesse | Düsseldorfer Schauspielhaus | 25.4.(P) 19.30 Uhr | 0211 36 99 11
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