Es war nur eine Frage der Zeit. Verwunderlich ist eher, warum es erst jetzt passiert. Keine Frage, die MeToo-Bewegung hat manches Verdrängte, Verschwiegene und Vergessene ans Licht gebracht. Verblüffend nur, dass das Theater dazu viel länger brauchte als der Film. Matthias Hartmann, der gerade am Düsseldorfer Schauspielhaus das David Bowie-Musical „Lazarus“ inszeniert hat, wurde am 2. Februar von früheren Mitarbeitern an den Pranger gestellt. Insgesamt 60 Schauspieler, Techniker, Garderobieren, Souffleusen und Inspizienten haben ihm in einem offenen Brief in der Zeitung „Der Standard“ eine „Atmosphäre der Angst und Verunsicherung“ während seiner Zeit als Direktor des Wiener Burgtheaters (2009-14) vorgeworfen. So sollen Schauspielerinnen bei einer Probe gefragt worden sein, ob sie beim Oralverkehr das Sperma schlucken. Der Tänzer Ismael Ivo wurde als „Tanzneger“ bezeichnet, die (Multimedia-)Technik als „Vidioten“ oder „Schwachmaten“. Klapse auf den Hintern waren (Premieren-)Alltag. Schwulenwitze auch.
Die Unterzeichner prangern zwar Hartmann persönlich an, zielen aber höher: „Immer wieder wird von vielen RegisseurInnen in künstlerischen Prozessen Machtmissbrauch, Demütigung und Herabwürdigung als probates Mittel in der Arbeit angesehen und durch das ‚eigene künstlerische Genie‘ entschuldigt.“ Außerdem lade die Position des inszenierenden Intendanten, mit dem man tagsüber probt und von dem man abends dann gekündigt wird, regelrecht zum Machtmissbrauch ein.
Die MeToo-Bewegung mag Zungen lösen. Doch Machtmissbrauch und Demütigung sind Teil einer déformation professionelle des (Stadt-)Theaters. Das ist keine Entschuldigung. Zum strukturellen Markenkern des Theaters gehört die feudale Hierarchie, die spielerische Lüge, das Agieren unter ständiger Aufsicht und die körperliche Preisgabe auf der Bühne. Die idealistisch-kreative Verbrämung des eigenen Tuns ist dabei nur Camouflage. Dass selbst die großen Schauspieler des Burgtheaters sich eines Intendanten nicht erwehren können, wirft kein gutes Licht: weder auf die Schauspieler, noch auf das Theater.
Hartmann, der von 2000-05 Intendant am Bochumer Schauspielhaus war, hat die Aussagen bestätigt, sie aber in ein anderes Licht gestellt. Er sei weder sexistisch, noch homophob oder rassistisch. Vieles sei als Scherz gemeint gewesen, für anderes habe er sich entschuldigt. Strafrechtlich relevant ist nichts davon. Auch der 2014 gegen Hartmann erhobene Vorwurf der Etatüberziehung von 20 Mio. Euro, der ihn den Job am Burgtheater kostete, konnte bisher nicht erhärtet werden. Zu den großen Brüllaffen im Theater soll angeblich auch der zukünftige Burgtheaterintendant Martin Kusej (ab 2019) gehören. Bereits im Januar hat der Deutsche Bühnenverein eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich „grundlegenden Fragen der Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung an Theatern und Orchestern“ widmen soll. In der Politik funktionieren Arbeitsgruppen als Verschiebebahnhofs – wir sind gespannt, ob das beim Theater anders ist.
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