Die neue Spielstätte des Theater der Keller, die Tanzfaktur, ist an rauem Charme kaum zu überbieten. Die fensterlose Halle mit unverputzten Wänden könnte deshalb für die Eröffnungspremiere „Gilgi|Keun – Eine von uns“ kaum passender sein. Regisseur Heinz Simon Keller konfrontiert die Autorin Irmgard Keun mit ihrer eigenen neusachlichen Romanfigur Gilgi aus den frühen 1930er Jahren. An einem Schreibtisch mit Wein, Zigaretten und Skripten sitzt die grandiose Renate Fuhrmann als alt gewordene Schriftstellerin. Sie kommentiert nicht nur ihre Romanfigur aus den 1920ern, sondern auch ihren eigenen Lebensweg. Amelie Barth als Gilgi dagegen zelebriert zwischen drei Vorhängen und verschnürten Objekten ihre pragmatische Ironie als Lebenskonzept: „Moderner Weltschmerz ist mir zum Brechen.“ Sie gibt die Figur nicht an eine rotzige Girlie-Naivität preis, sondern lässt sie zwischen Emanzipation, Aufsteigertum, Hedonismus und Vernunft changieren. Die Liebe zu dem älteren Martin (Matthias Lühn) bringt Gilgi dann allerdings erheblich ins Schlingern.
Die Regie hält die Ebenen lange in dramaturgischer Balance, auch wenn Gilgi ihre Autorin nur selten mal kommentieren darf. Im letzten Drittel allerdings werden Keuns Kommentare zu ihrer Flucht aus Nazideutschland, zur miefigen Adenauerzeit, zu Männern und der eigenen Erfolglosigkeit immer sarkastischer, während Gilgi sich zwischen Selbstbestimmung und Liebe krakeelend aufreibt. Die Autorin hat die Figur Gilgis fast völlig dekonstruiert. Die Konfrontation von Roman und Biografie hinterlässt einiges Bauchgrimmen, trotzdem sehenswert.
„Gilgi|Keun – Eine von uns“ | R: Heinz Simon Keller | 2., 7., 14., 15.11. 20 Uhr, 3.11. 18 Uhr | Theater der Keller (Tanzfaktur) | 0221 31 80 59
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Einstürzende Bergwelten
„Monte Rosa“ am Theater der Keller – Prolog 02/24
Schleudergang der Pubertät
„Frühlings Erwachen: Baby, I‘m burning“ am Theater der Keller – Auftritt 11/23
Komik der Apokalypse
„Die Matrix“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/23
Sonnenstürme der Kellerkinder
1. Ausbildungsjahr der Rheinkompanie – Theater am Rhein 08/23
„Die starke Kraft der Träume anzapfen“
Intendant Heinz Simon Keller über „Die Matrix“ am Theater der Keller – Premiere 08/23
Das digitale Paradies
Ensemble 2030 im Theater der Keller – Theater am Rhein 07/23
Essen, Scheißen und Fummeln
Charlotte Keller inszeniert „König Ubu. Oder wir sind am Arsch“ – Auftritt 07/23
Bots und Freiheitsträume
„Welcome to digital paradise“ am Theater der Keller – Prolog 06/23
Über den Tod: Eine Liebesgeschichte
Büchners Wiedergeburt am Theater der Keller – Theater am Rhein 04/23
Außenseiter der Gesellschaft
„Büchner“ am Theater der Keller – Prolog 03/23
Lehren des Widerstands
Theater der Keller: „Mädchenschule“ – Theater am Rhein 01/23
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
Wo ist Ich?
„Fleischmaschine“ am FWT – Theater am Rhein 02/24
Falle der Manipulation
„Das politische Theater“ am OT – Theater am Rhein 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Radikaler Protest
„Ein Mensch ist keine Fackel“ in der Orangerie – Theater am Rhein 01/24
Emotionale Abivalenz
„Sohn meines Vaters“ in Köln – Theater am Rhein 01/24
Übung in Demokratie
„Fulldemo.cracy“ am Studio Trafique – Theater am Rhein 01/24
Welt ohne Männer
„Bum Bum Bang“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 12/23
Was ist hinter der Tür?
„Die Wellen der Nacht …“ in der Orangerie – Theater am Rhein 12/23
Weiter mit der Show
„Von Käfern und Menschen“ am TiB – Theater am Rhein 11/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23