Was für ein rauschhafter Auftakt! Wenn man im Museum Ludwig über die Stufen in die Werkschau von Roni Horn eintritt, ist man zwischen den Tableaus mit fotografischen Porträts wie überwältigt. Die beiden Blöcke aus 48 kleinformatigen Porträts eines Kindes stehen sich gegenüber. In Reihen jeweils von links nach rechts wiederholen sich die beiden Raster paarweise. Im Hin und Her des Blickes zeigt sich aber, dass die vermeintlich selben Porträts voneinander abweichen: Tatsächlich liegen zwischen den Aufnahmen der einzelnen Paare wenige Sekunden.
Und dann stellt man fest, dass es sich um ein einziges Mädchen handelt, die Nichte von Roni Horn. Die New Yorker Künstlerin verbindet das Konzeptuelle, Objektivierende ihres Werkes mit dem Privaten und teilt ihre Aneignungen der Wirklichkeit mit. Als unmittelbarer psychischer Ausdruck ist neben der Fotografie Zeichnung seit den 1980er Jahren ihr zentrales Verfahren. Die frühen Zeichnungen enthalten zwei oder mehrere amorphe oder geometrische Formen aus reinem Pigment, die im Krustigen und mit ihrer milchigen Farbigkeit an Gesteine erinnern. Roni Horn erweist sich als Meisterin der Nuance und des achtsamen Sehens und damit auch der Entschleunigung: „Gegenstände“ ihrer Beobachtung sind in der Ausstellung im Museum Ludwig eine Wasseroberfläche ebenso wie Worte und eben wie ein Gesicht, und alles ist mit Innigkeit und Intensität vorgetragen. Roni Horns Kernthese dahinter ist, dass sich nichts wiederholt, und natürlich auch, wie facettenreich die Natur und der Mensch sind.
Roni Horn wurde 1955 in New York geboren. Gemeinhin wird ihr Werk der Konzeptkunst zugeordnet; sie gilt hier als internationaler, aber überaus stiller Star. Sie wendet sich unspektakulären, vermeintlich selbstverständlichen Dingen und Sachverhalten zu und zergliedert sie. So hat sie die Zeilen einzelner Gedichte von Emily Dickinson in Druckbuchstaben auf Vierkantstäbe schreiben lassen. Die Stäbe lehnen aneinander, halten sich aufrecht, die Texte sind nur von einer Seite zu entschlüsseln und verlangen nach ungeteilter Aufmerksamkeit. Oder sie verbindet Fotografien der bewegten Oberfläche der Themse in immer anderen farblichen Schattierungen mit Textsammlungen unter den Prints, die sie aus Pop-Songs und der Literatur zusammengetragen hat. Ihre Oberflächen kennzeichnet durchgehend höchste Sensibilität; ihre Objekte schließen mit Spiegelflächen ab oder bestehen aus Gummimatten, die so dünn auslaufen, dass sie die Bodenstruktur durchpausen, oder aus einer ausgebreiteten Folie aus purem Gold, die auf den an AIDS gestorbenen Felix Gonzalez-Torres anspielt, der (übrigens auch vor drei Jahrzehnten im Museum Ludwig) einen Berg aus Bonbons in goldenem Papier geschaffen hat. Und dann kehrt Roni Horn über ihr gesamtes Werk auf die fotografischen Paare zurück, sei es mit den Hinterköpfen ausgestopfter isländischer Wildvögel oder mit dem Porträt von Isabelle Huppert in verschiedenen Vortragsrollen und vor allem mit ihr selbst: von vorne und von hinten, in gleichen oder verschiedenen Lebensaltern – ernst und doch immer heiter: Ich ist viele; niemand hat nur eine Identität, Identität ist etwas, das wechselt.
Roni Horn. Give Me Paradox or Give Me Death | bis 11.8. | Museum Ludwig | 0221 22 12 61 65
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