Manchmal packt die Kunstgeschichte Zeitphasen und Regionen in einen griffigen Begriff, der hinterfragt werden müsste. Natürlich lag „damals“ mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Mauerfall nahe, die frühe künstlerische Avantgarde der Sowjetrepubliken als Einheit zu betrachten – eine der Initialausstellungen hieß „Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932“, veranstaltet 1992 von der Schirn Kunsthalle in Frankfurt. Und erst recht angesichts der Leihgaben aus Museen wie der Tretjakow-Galerie in Moskau und dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg, aber auch dem Ukrainischen Kunstmuseum Kiew war an eine Aufsplittung nach Republiken nicht zu denken, und so blieb es fortan. – Deshalb, mit den heutigen Erfahrungen und vor diesem furchtbaren Krieg: Macht es Sinn, die ukrainische Avantgarde aus dem Kontext der Sowjetrepubliken herauszunehmen und für sich zu betrachten? Ja, das macht es. Das demonstriert das Museum Ludwig überzeugend in einer Ausstellung, die eigentlich den Umständen geschuldet ist. Etliche Kunstwerke, die im Februar vergangenen Jahres in Kiew aus dem Nationalmuseum sowie dem Museum für Theater, Musik und Film der Ukraine gerettet werden konnten, treffen auf Sammlungsbestände des Museum Ludwig und des Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid.
Ausgestellt sind Werke von den 1900er- bis in die 1930er-Jahre in der Ukraine. Hintergründe dieser Werke sind der Zusammenbruch des riesigen Imperiums, die damaligen unsicheren Verhältnisse, die beginnende internationale Vernetzung in der Kunstszene – besonders mit Paris, wohin einige dieser Künstler:innen reisten – und die Sparten übergreifende Aktivität mit Theater und Ballett, Literatur und Musik: Und daraus erwuchs eine lebendige Kultur mit Zentren in Kiew, Charkiw, Lemberg und Odessa. Die Kölner Ausstellung konzentriert sich auf Kiew und Charkiw mit Persönlichkeiten wie Alexander Archipenko, Wolodymir Burljiuk, Alexandra Exter oder Kasymiyr Malewytsch. Malewytsch ist mit einer suprematistischen Komposition, aber auch einem Beispiel seiner Rückkehr zur gegenständlichen Darstellung von Landschaft vertreten. Von Exter wird ein Beispiel für den Kubo-Futurismus gezeigt, ebenso wie von Oleksandr Bohomazov. Der sozialistische Realismus findet sich bei Konstjantyn Jelewa und Mychajlo Bojtschuk. Zwar ist der tiefere Hintergrund mit der jüdischen Tradition oder den Einflüssen aus Paris oder doch Russland kaum vertieft, aber die Zugehörigkeit zu stilistischen Schulen und Ausbildungsstätten und die Beschäftigung mit Bühnenbildern, Theaterkostümen und choreografischen Skizzen wird deutlich. Und in all der Improvisation, die hinter der Präsentation mit mehreren Ausstellungsstationen steckt, sind großartige, bislang wenig bekannte Künstlerpersönlichkeiten zu entdecken. Im Museum Ludwig läuft diese Ausstellung, die in die Sammlungsräume integriert ist, innerhalb der Reihe Hier und Jetzt. Dazu ist noch, sozusagen als Auftakt von heute, eine riesengroße Glasarbeit der jungen, 1987 in Charkiw geborenen Daria Koltsova zu sehen: Die Ukraine ist nach wie vor ein Land der Avantgarden und des Aufbruchs.
Ukrainische Moderne & Daria Koltsova | bis 24.9. | Museum Ludwig | 0221 22 12 61 65
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