Es ist ein Leben aus zweiter Bedeutungshand. Wohngemeinschaft, politisches Engagement, Partnertausch – alles hatte seine Zeit, doch es war nicht die von Jeani, Babsi und Max. Die drei Protagonisten aus Ewald Palmetshofers Stück „wohnen. unter glas“ haben mal als Studenten zusammen gewohnt, „ein bisschen links“ waren sie auch, haben miteinander gekocht und gekuschelt und treffen sich jetzt als Thirtysomethings wieder. Doch alles, was sie zur Verfügung haben, sind Desillusion, Mikrosätze und verbale Wiederholungsschleifen: „Babsi. Hallo. Schön. Du. Lass dich anschaun“ oder „Und dann. Plötzlich. Plötzlich. Grenze. Armuts-grenze. Emotionale Armutsgrenze. Plötzlich. Drunter. Du.“ An der Bar eines Hotels suchen sie nun nach alten Gemeinsamkeiten und legen das eigene Leben unters Mikroskop unerfüllter Erwartungen. Als metaphorische Auslegeware knittert sich in Daniel Schüßlers gelungener Inszenierung im artheater eine Deutschlandfahne über die Stufenbühne, und die drei Schauspieler stürzen sich mit Elan in ihr Erinnerungs- Aufrechnungs-Zukunftsdepri-Schaulaufen. Bernd Rehse gibt einen ganz schmalbrüstigen Max, abgeklärtes Kuscheltier zwischen Selbstekel und Konsumkritiksuada, das angeblich den ganzen „Perspektiven Visionen Scheiß“ abgelegt hat. Um ihn kreisen (immer noch) die beiden Ex-WG-Frauen: Dorothea Förtsch als nachtragend- verzickte Babsi mit hoher Nase und Elena Galindos bodenständigkeifende Jeani. Zwischendurch stecken sich die drei Clownsnasen ins verquälte Gesicht, und Zarah Leander singt dazu. Menschen unter Glas, die „Menschsein spielen, Wohnen spielen, Liebhaber spielen“ und glauben, mit 30 „über den Zenit“ hinaus zu sein. Ganz im Gegensatz dazu haben die Jugendlichen in „Dass die Nacht dem Tag folgt/When night follows day“ das Leben noch vor sich. Tim Etchells Stück ist eine radikale Bestandsaufnahme dessen, was Erziehung aus Sicht von Kindern heißt: „Ihr versucht, uns etwas über die Welt zu erzählen. Ihr erklärt uns, was Liebe ist. Ihr erklärt uns, was Krieg bedeutet. Ihr küsst uns, während wir schlafen. Ihr flüstert, wenn ihr denkt, wir würden nichts hören. Ihr erklärt uns, dass die Nacht auf den Tag folgt“. Bei allem Witz tut sich da ein elterliches Kompendium an Welterklärung, Wahrnehmungsdefinition und menschlicher Sorge auf, dessen bilanzierte Omnipotenz erschreckt. Zwischen zwei Stellwänden und vier ausgeschlachteten Sesseln vollführen die 16 Schüler des Alberts-Magnus-Gymnasiums auf der Bühne der Comedia eine anspruchsvolle Choreographie, formieren sich mal zur Chorusline, mal zu kleinen Gruppen oder zum Solo. Regisseur Arno Kleinofen und Choreographin Bebê de Soares von Teatro 4Garoupas haben mit den Jugendlichen ganze Arbeit geleistet. Gesprochen wird im Chor oder solistisch. Der Ausdruck bleibt dabei immer ernst, und man kann sich bald des mulmigen Gefühls nicht entziehen, dass die 11-14jährigen Schüler sich hier erwachsener präsentieren als die feixenden Eltern im Publikum.
„wohnen. unter glas“ von Ewald Palmetshofer
artheater I 22./23./24.4.
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