choices: Herr Berger, kleine Theater dürfen unter Auflagen wieder spielen, aber nicht alle wollen. Warum haben Sie sich dazu entschlossen?
Marko Berger: Wir wollen nicht bis Herbst warten, sondern jetzt Erkenntnisse und Erfahrungen sammeln. Selbstverständlich ist das ein künstlerisches Risiko in der Umsetzung. Aber wir haben den Regisseur Kristóf Szabó und der Regisseurin Andrea Bleikamp und allen anderen KünstlerInnen die entsprechenden Maßnahmen vorgestellt, damit sich jeder darauf einrichten kann. Wir brauchen so etwas wie ein minutiöses Drehbuch, nach dem die Publikums- und die Künstlersituation Schritt für Schritt durchorganisiert werden.
Ist eine Produktion wie „Hairy – der maskierte Friseur“ wegen der Abstandsregelung im Tanz auch ein Test unter verschärften Bedingungen?
MB: Was auf der Bühne möglich sein wird, das muss Kristóf Szabó im Probenprozess mit uns ausloten. Also: Wie agieren die beiden TänzerInnen miteinander, inwieweit muss das bisherige Konzept uminszeniert werden. Wir sind uns wie gesagt, des künstlerischen Risikos bewusst. Aber jeder Schritt muss gemessen werden, um die derzeit geforderten sechs Meter Abstand bei Stoßatmung zu wahren.
Herr Szabó, was bedeutet es für Sie, unter diesen Bedingungen Ihre Produktion „Hairy“ zu realisieren?
Kristóf Szabó: Ich weiß derzeit nicht, wie die Bestimmungen definitiv aussehen werden. Bisher ist nur klar, dass zwei TänzerInnen einen Abstand von 6 Metern zueinander einhalten müssen. Ich hatte sowieso die Absicht, ein Duo zwischen Friseur und Kundin zu machen, bei dem sie sich nicht berühren. Wenn der Abstand zum Publikum ebenfalls sechs Meter betragen soll, dann wird es allerdings problematisch. Es soll eigentlich Momente geben, in denen die TänzerInnen auch auf das Publikum zugehen. Je weiter hinten, desto schwieriger.
MB: Zur Frage der Dimension: Der geforderte Mindestabstand von sechs Metern nimmt etwa die Hälfte der bisherigen Spielfläche des Orangerie-Theaters ein.
Herr Szabó, was interessiert Sie am Thema Haare?
KS: „Hairy – der maskierte Friseur“ handelt vom Zwiespalt zwischen der Souveränität, über die eigenen Haare bestimmen zu können, und der Ohnmacht, wenneine Organisation oder Institution die Haare gewaltsam entfernt. Jeder Mensch hat die Wahl, über die Haare Inhalte zu kommunizieren: Über sich, über die eigene Erotik, die politische Einstellung, seine soziale Zugehörigkeit. Auf der anderen Seite verfügen Institutionen wie Militär, Gefängnis oder Religion gewaltsam, wie jemand seine Haare zu tragen hat. Oder denken Sie an die französischen Frauen, denen 1945 die Köpfe kahlgeschoren wurden, weil sie mit den Deutschen kollaboriert hatten. Von allen Seiten wird versucht, über das Haar Kontrolle auszuüben.
Inwieweit spielen die Haare für die Identität eines Menschen eine Rolle?
KS: Es kann sein, dass jemand sein Leben ändern möchte und bei der Frisur beginnt. Das geschieht in der Regel freiwillig. Die neue Frisur soll eine neue Facette der Persönlichkeit oder eine neue Identität beglaubigen. Es gibt ein banales Beispiel: Wenn die Frau ihre Frisur geändert hat, ist die Ehe schon kaputt. Zugleich interessiert mich die erotische Komponente: Langes Haar bei Frauen und Männern übt eine große Anziehungskraft und eine sinnliche Faszination aus. Das reicht von Adam und Eva über Samson und Dalila bis zu Rapunzel.
Welche Rolle spielen dann Friseur und Friseurin in diesem Prozess?
KS: Der Friseur ist jemand, der unzählige Identitäten initiieren kann. Es geht um die Vielfältigkeit der Möglichkeiten. Dieser Beruf ist geprägt von einer ständigen Vision, was der Kunde oder die Kundin sein könnte. Der Friseur erkennt Potentiale, was ein Mensch alles sein kann. Jede Identität, die er seinen Kunden verpasst, ist letztlich aber eine Spiegelung seiner eigenen Möglichkeiten. Selbstverständlich haben die Kunden eigene Vorstellungen, über die in einem Deal mit dem Friseur verhandelt wird. Diese Absprache lässt sich gut im Tanz erzählen.
Über Friseure wurde im Zuge der Corona-Krise viel berichtet. Hatte das Einfluss auf Ihre Konzeption?
KS: Die Figur des Friseurs war zunächst nicht so zentral. Durch Corona wurde dieser Aspekt wichtiger. Das große Gewicht bekam der Friseur also erst in einer späteren Phase der Konzeption. Dadurch, dass die FriseurInnen derzeit Masken und Handschuhe tragen müssen, verlieren sie zudem selbst ihre Identität als Person.
Die Bühne und die Kunst sind die eine Seite. Auf was muss sich das Publikum einstellen?
MB: Der Kartenverkauf wird überwiegend online stattfinden. Schon beim Reinkommen gibt es kleine Einweisungen, wie man sich zu verhalten hat. Wir empfehlen unseren Zuschauern, vor Beginn zur Toilette zu gehen. Vor dem Saal wird man in Abständen anstehen, die letzte Reihe geht dann zuerst rein. Wir gehen zurzeit von 25 Plätzen als absolutem Minimum aus, das kann man bei späteren Lockerungen ausbauen. Es werden zu Beginn sicherlich eher die harten Theaterfans und Kollegen kommen.
Welche finanziellen Folgen hat das für ein kleines Haus wie das Orangerie-Theater?
MB: Wir finanzieren uns über eine städtische Förderung, den Kartenverkauf sowie kommerzielle Vermietungen in der spielfreien Zeit, die wir für 2020 noch nicht abschließend einschätzen können. Bei uns macht der Kartenverkauf etwa vierzig Prozent des Budgets aus, was sehr viel ist. Die geringeren Zuschauerzahlen durch Corona reißen deshalb ein gewaltiges Loch in unsere Finanzierungsdecke. In diesem Sommer erlassen wir den Gruppen den Eigenanteil an der Probenmiete. Die Künstler bekommen zudem die gesamte Abendkasse, so wenig das auch sein wird. Außerdem haben wir die technische und personelle Unterstützung bei der Umsetzung der Produktionen erheblich intensiviert. Wir hoffen, dass die Stadt Köln oder andere Förderer die coronabedingten Verluste der Theater und Gruppen finanziell abfedert, bis ein Normalbetrieb wieder in Sicht ist.
Ab wann wäre ein Spielbetrieb nicht mehr rentabel? Wo ziehen Sie die Grenze?
MB: Wir hatten bisher eine Auslastung von 80 Prozent, auf die wir sehr stolz sind. Wir werden jetzt eine Quote ermitteln, die wir im Krisenmodus erreichen müssen. Dagegen muss dann die Anzahl der Spieltage gehalten werden: Sollen wir mehrere Vorstellungen pro Tag spielen, um die geringe Platzkapazität pro Vorstellung zu kompensieren? Oder können wir uns das durch die Mehrkosten und Mehrbelastung des Personals gar nicht leisten? Wir sind nicht existenzgefährdet, aber es gibt sehr viele Unwägbarkeiten, durch die die Luft plötzlich ganz dünn werden kann.
Hairy – der maskierte Friseur | R: Kristóf Szabó | 18.6. - 21.6. | Orangerie Theater | 0221 22 12 48 00
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