Shen Te trägt ein Suzy Wong-Kleid, liegt lasziv auf einem Förderband und sieht hinreißend aus – auch wenn sie nur eine Puppe ist. Regisseur Moritz Sostmann nimmt sich in Köln Brechts Klassiker „Der gute Mensch von Sezuan“ vor und treibt ihm erst mal alle Dogmatik aus. Auf Christian Becks Rumpelbühne mit Schutthaufen, Absperrgitter und Müllcontainer sind die Götter ein tumber Haufen mit Flügelchen, der die Puppen bedient, die sich dann wiederum in Menschen verwandeln. Die Regie vervielfacht Brechts simplen Abspaltungsprozess, wonach Shen Te (Magda Lena Schlott) als Besitzerin eines Tabakladens sich das böse Alter Ego Shui Ta schafft, um zu überleben – und macht daraus ein wunderbar leichtfüßiges Spiel.
Die Liebe zu dem schwachen Flieger, der Versuch, ein guter Mensch zu bleiben, ist überschattet von einer zarten Melancholie. Bonjour Tristesse anstatt dialektischem Optimismus. Und die Schmarotzer hocken in ihrer aberwitzigen Sesamstraßen-Breitmäuligkeit im Müllcontainer. Beckett oder Hartz IV-Armut? Am Ende fällt die Revolution aus. Es muss nur ein guter Schluss her. „Muss, muss, muss, Kommunismus, Kapitalismus, Feminismus …“, flüstert Shen Te leise.
Nach den erfolgreichen Jahren unter Karin Beier wagt das Kölner Schauspiel jetzt unter Intendant Stefan Bachmann den Neuanfang – und man spürt die Bürde. Vier Hausregisseure, vier Premieren, drei Enttäuschungen – so lautet die Bilanz. Michael Frayns temporeiche Konversationsklamotte „Der nackte Wahnsinn“ (Regie: Raffael Sanchez) war im riesigen Depot 1 im Carlswerk, der Ausweichspielstätte der Schauspiels, schlicht fehlplatziert. Und Angela Richters Stück über die Kölner Kunstikone Martin Kippenberger verkümmert zwischen großen Leinwänden zur simplen O-Ton-Collage. Blieb also der Hausherr selbst, der sich an Ayn Rands 1957 erschienene Riesenscharteke „Der Streik“ (engl. „Atlas shrugged“) wagte. Ein spannendes Experiment, gilt die Exilrussin mit ihrer Theorie eines entfesselten Kapitalismus doch als Ikone der politischen Rechten in den USA. Ihr 1.300 Seiten-Wälzer beschreibt den Kampf von Unternehmern gegen eine Regierung, die im kollektivistischen Wahn schlicht alles vergesellschaftet. Die Industriellen treten in Streik und zwingen dem Land schließlich ein radikalkapitalistisches Happy End auf. So weit, so kontrovers.
Bachmann kleckert gar nicht erst, sondern klotzt. Da donnert ein Kipplaster Marke IFA herein, obenauf der Ölmulti Ellis Wyatt, der sich mit der Eisenbahnmagnatin Dagny Taggart streitet. Die wiederum lässt geschätzte 15 Meter Gleise von Statisten verlegen, mit Schotter, Bohlen und allem Drum und Dran. Theater im Cinemascope-Format. Der Film ist denn auch Bachmanns erste Referenz mit gewaltigen Bildern, Parallelmontagen und Rückprojektionen. Doch das Personal dieses amerikanischen Märchens gerät seltsam blutleer. Melanie Kretschmann darf sich zwar nackt auf dem LKW räkeln, doch ihre Dagny Taggert lässt jede Strenge, Aura oder Entscheidungsgewalt vermissen; Jörg Ratjen als Stahlbaron Hank Rearden kann die Mischung aus mönchischer Kapitalistenmoral und sexueller Leidenschaft für Dagny nie glaubhaft machen. Und der Anführer des Aufstands, der mysteriöse Erfinder John Galt, verkümmert bei Guido Lambrecht zum Bürokraten ohne Charisma. Sicher, Rands Buch ist mehr Thesenpapier als Roman, ihre überhöhten Unternehmerfiguren mögen Kitsch sein, doch so blutleer sind sie nicht.
Das Hauptproblem des Abends aber liegt darin, dass Bachmann keine Haltung zum Stoff entwickelt. Da reicht es nicht, die paradiesische Bergenklave der streikenden Unternehmer als gewaltige, sich aufblasende Schneekugel mit Gipfelpanorama, den Regierungsideologen Dr. Ferris als wahnsinnigen Dr. Seltsam oder die siegreichen Industriellen am Ende als herumballernde Caballeros zu ironisieren. Bachmann flüchtet sich allzu oft in eine vermeintliche Neutralität, anstatt sich den Stoff offensiv zu eigen zu machen – oder ihn komplett zu konterkarieren. So war es am Ende Sostmanns Brecht-Abend, der grazil, melancholisch und spielerisch Einspruch gegen Rands Brutalkapitalismus erhob, der aber auch den Kölner Neuanfang bestimmte: Es muss schließlich nicht immer das Pathos der großen Geste sein.
„Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn | R: Raffael Sanchez | 10./12./13./23./25./26.11. 19.30 Uhr
„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht | R: Moritz Sostmann | 4./9./10. (16 Uhr)/14./27.11. 20 Uhr
„Kippenberger“ | R: Angela Richter | 21./29.11. 20 Uhr
„Der Streik“ von Ayn Rand | R: Stefan Bachmann | 6.-9./15. (19 Uhr)/21./27./30.11. 19.30 Uhr | Schauspiel Köln im Carlswerk | www.schauspielkoeln.de
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