Die „Wirklichkeit“ im Theater ist eine düstere Sache. Zu Beginn der Komödie steht eine junge Frau im schwarzen Kleidchen vor einer eisernen Wand – und am Ende steht sie wieder da, grinst immerhin kurz und macht sich davon. Hinter der Mauer allerdings liegt offenbar das Neverland des Theaters: Minna von Barnhelm (Annika Schilling) findet endlich ihren Geliebten Tellheim (Alois Reinhardt) wieder, der allerdings als bettelnder Schmerzensmann nichts von ihr wissen will. Der durchgegenderte Wirt (Bernd Braun) im bodenlangen Glitzerfummel hat ihn rausgeworfen.
Wiedersehen macht Freude: Minna und ihre Zofe Franziska zerren den widerstrebenden Tellheim in ein knallbunt überzuckertes Traumland mit halbrunder rosa Balustrade und Varietévorhang, gestreifte Luftbälle und -würste sowie japanischer Riesen-Winkekatze (Ausstattung: Aleksandra Pavlović). Das Frauenduo trägt weiße Brautkleid-Reifröcke, später kommen vier Rollschuhfahrerinnen mit riesigen Schwellköpfen und Ricaut de la Mariniere als Torrero dazu. Ist das eine überzuckerte Komik-Dosis oder die Erinnerung an infantile Niedlichkeitsträume?
Im Geblödel versteht man weder den Anlass für Tellheims Zahlungsunfähigkeit, noch seine Ehrduselei, die ohne modernes Äquivalent bleibt – mehr als ein semimachistisches Schmerzbrüllen zeichnet ihn sowieso nicht aus. Und Minnas Liebesintrige, in der sie sich als noch ehrverlorener als ihr Lover ausgibt, sowie der dahinterstehende Geschlechterkonflikt bleiben ebenfalls auf der Strecke. Lessings Aufklärungskomödie verkümmert in Charlotte Sprengers Inszenierung zur Spruchsammlung auf einem Theater-Glückskeks.
„Minna von Barnhelm“ | R: Charlotte Sprenger | 6.10. 18 Uhr; 9., 19., 25.10. je 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0221 77 80 08
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