Man könnte verrückt werden. Falsch. Man wird verrückt. Alles eine Frage der Zeit. Ob auch für den Wahnsinn eine Relativitätstheorie besteht, lässt sich aus Nona Fernandez‘ Drama „Mädchenschule“ nicht erschließen, doch Vergangenheit, Gegenwart und die Leerzeile einer noch zu besetzenden Zukunft spielen hier eine Hauptrolle. Das Tempus ist entscheidend. Langsam, gefühlt ewig, bewegt sich ein Mensch geplagt von quälenden Gedanken durch einen spärlich beleuchteten Raum, der mit verstreut umherliegenden Schuhen, einem Tisch und wenigen Stühlen ausgestattet ist. An der Wand eine Tafel, bestückt mit ausladenden Papierbögen. Der Protagonist befindet sich in einer verlassenen Schulklasse. Abgehackte Selbstgespräche, schwelender Selbstzweifel, zäh mäandernde Konfusion bestimmen die Szenerie. Der Mann hat Probleme. Das erklärt sich aus seinem Beruf als Vermittler von Lehren und einer erzwungenen Autorität. Dann ein Pochen, Schlagen gegen die verriegelte Hintertür. Der Schrei einer Frau: „Aufmachen. Rauslassen!“ Hier kollidieren die Apathie des Pädagogen und der Sturm und Drang einer ehemaligen Schülerin, verschmelzen Gegenwart und Vergangenheit in einer still-wütenden Melancholie, wird unter Schmerzen ein Fragezeichen aus Gedankensplittern gebogen, das als Symbolik der Zukunft kaum aufrecht stehen kann. Es folgen weitere Figuren, die sich als einstige Student:innen zu erkennen geben. Sie haben sich Jahrzehnte im Gebäude versteckt, weil sie als Revolutionär:innen die Verfolgung der Obrigkeit fürchteten und dabei ihre Jugend verloren. Das ungleiche Zwillingspaar „Anpassung“ und „Widerstand“ blitzt stetig auf.
Das Ensemble reflektiert die Auswirkungen von Macht und Unterdrückung. Ursprünglich auf die chilenische Militärdiktatur unter Augusto Pinochet gemünzt, erweist sich der Plot als flexibel und kann auf die Situation von Flüchtlingen (und deren Duldung/Abschiebung) oder Bewegungen wie Extinction-Rebellion übertragen werden, die für einen radikalen Umweltschutz eintritt. Leider gelingt ein hörbares Ausrufezeichen in der Premiereninszenierung (noch) nicht, denn lediglich Aktrice Katharina Waldau rüttelt mit dynamischem Auftritt am Unterbewusstsein der Zuschauer:innen. Zu defensiv agieren ihre Mitspieler:innen. Zudem erweist sich die Einflechtung kontemporärer Tanz-Choreographien als bemüht und der multiplen TKO-Darstellertradition geschuldet. Doch dieses Klassenzimmer bietet Raum für mehr: Mehr Wut, Sanftmut, Erkenntnisse, bare Füße, die wieder in Schuhe steigen, um ihren eigenen Weg in die Freiheit zu gehen.
Mädchenschule | R.: Nada Kokotovic | 25., 26.1. 20 Uhr, 12.2. 18 Uhr | Theater der Keller, Gastspiel Theater TKO | theater-der-keller.de
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