Wonnemonat, was heißt schon Wonnemonat? Fest steht, dass im Mai die Bäume ausschlagen und auch die Liebe schrillste Blüten treibt. Ob das eine Wonne ist, sei zunächst einmal dahingestellt. Sicher mag es eine helle Freude sein, wenn sich die Körper endlich und endgültig aus ihrer Michelin-Männchen-Verpackung schälen, um ihre naturgegebene Form wieder ins rechte Licht zu rücken. Wenn aber Männerträume wie Mel Ramos' legendäre Werbe-Nudes an jeder Straßenecke aus dem Boden sprießen, den Testosteron-Haushalt in die Höhe schießen lassen, bis dem Hirn jegliche Blutzufuhr abgeschnitten ist, klingt das in seiner Kombi aus nackter Anmut und perfekter Markenstaffage immer auch nach sinnentleerter Augenweide. Und doch birgt exakt dieses Dilemma jenen leidenschaftlichen Ansporn, der nicht nur den kalifornischen Pin-up-Künstler zu „50 Jahre(n) Pop-Art“ (Hatje Cantz), sondern auch ein Heer von Schriftstellern zu grandiosen Werken inspiriert hat:
„Damals war Frühling, und im Mai passierten die merkwürdigsten Dinge […]. Solche Frauen waren nur für die, die bezahlen konnten. Sie waren nicht für Jungs, die nichts besaßen als ihr Herz und den blauen Sommerhimmel. Sie bat ihn herein.“
Rettungslos romantisch und dementsprechend traurig präsentiert sich in diesem Kontext der schmale 50ies-Kultroman „Taxi 79 ab Station“ (Transit) des Isländers Ingriđi G. Thorsteinsson, dessen Protagonist auf einer seiner nächtlichen Fahrten nie für möglich gehaltenen Zutritt zu Leben und Liebe einer Upper-Class-Lady erhält. Nicht ganz so lakonisch, dafür etwas rotziger, schlägt Oliver Becker die Riffs seiner „Kleinstadtghetto Ballade“ (Plöttner) an, in der ein jugendlicher Außenseiter durch die Liebesbeziehung zu seiner Lehrerin zumindest vorübergehend seiner verfahrenen Existenz entrinnen kann. Ein morbides Sackgassenszenario, das immer wieder mit zärtlichen Momenten überrascht. Eine Emotionalität, die bei André Pilz, eine der konsequentesten Stimmen unter den „Angry Young Men“ der deutschsprachigen Social-Beat-Szene, rigoros in die Einsamkeit seiner Antihelden verdammt ist. Die Chance war da, doch sie währte kaum mehr als eine Sekunde. Stattdessen beginnt für die junge Kolumbianerin Mayra ein Höllenritt, der sie aus den Slums von Bogotá über die online-Prostitution in den deutschen Landpuff „Bataillon d'Armour“ (Haymon) führt, der in seinen brutalen Auswüchsen der lateinamerikanischen Kriminalität in Nichts nachsteht.
Lust & Frust, Liebe & Depression, Sex & Wut: Sind diese Stimmungslagen schon in der Jugend untrennbar miteinander verbunden, so bleibt den Altmeistern dieses Fachs nicht viel mehr als der Thematik mit der ihnen eigenen Abgeklärtheit zu begegnen und sie so zumindest mit einem Funken Leichtigkeit zu erhellen. William Gay, einer der Stars der Southern-Gothic-Literatur, konstruiert in „Ruhe nirgends“ (Arche) um die klassische (zum Scheitern verdammte) Lovestory zwischen einem jungen Outsider und einer zu Prostitution verdammten Halbwaisen ein wüstes Westernepos, das in so raumgreifenden wie in Pathos schwelgenden Sätzen einen düsteren Sog entfaltet – und dergestalt wenigstens dem Kampf um die Liebe ein Denkmal setzt. Ganz anders Charles Bukowski in seinem letzten Werk, der posthum veröffentlichen Private-Eye-Novel „Pulp – Ausgeträumt“ (KiWi): eine furiose, urkomische Ode auf sein eigenes leidenschaftliches Streben, in der eine betörende Lady Death den abgehalfterten Detektiv Belane beauftragt, den Dichter Céline aufzustöbern, der ihr dereinst aufgrund einer Verwechslung durch die Lappen gegangen ist. Ein Feuerwerk gewitzter Selbstironie, das einem umgehend jegliche Bange vor einem verhagelten Wonnemonat nimmt.Vielleicht sollte man sich einfach direkt auf das surrealistische Moment des Sujets konzentrieren – und mit Bettina Rheims et Serge Bramly die Reise nach „Rose, c'est Paris“ (Taschen) antreten: eine verwegene Spurensuche, kongenial inszeniert aus Foto und Film, die das logisch Unfassbare von Liebe, Lust und Leidenschaft in all seinen erotischen Abgründen inszeniert.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wattebauschwerfen
Die potentiellen Koalitionspartner im Lit-O-Mat – Wortwahl 10/17
Vienna Calling
Der Teufel zwischen Buch und Beisl – Wortwahl 09/17
Migration
Oder: Vom Fressen und Gefressen-werden – Wortwahl 08/17
T3 mit Einschränkungen
Erkenntnisse aus dem literarischen Elfenbeinturm – Wortwahl 07/17
Leichte Kost
Für eine kalorienbewusste Literaturzufuhr im Advent – Wortwahl 12/16
Musik in den Augen
Literaturtracks für den Sommer – Wortwahl 08/16
Tour de Force
In 14 Tagen mit 6 Büchern durch Thailand – Wortwahl 05/16
Wirkungstreffer
Trojaner in Buchform – Wortwahl 04/16
Fasteleer
Ein kleiner Geisterzug durch die Literatur – Wortwahl 02/16
Künstlerpech
Das Kreuz mit den besten Jahren – Eine Weihnachtspredigt – Wortwahl 01/16
X-Mas Time
Geschenktipps für Frühkäufer – Wortwahl 12/15
Minimesse
Sechs Nadeln aus dem Heuhaufen – Wortwahl 11/15
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25