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Lebendige Fiktion

29. Mai 2012

Wortwahl 06/12

Pflügt man durchs Nachmittags-TV-Programm, stößt man unweigerlich auf eine Erzählform, die eine erstaunliche Eigenständigkeit und Dynamik aufweist: die Scripted Reality. Als quotenreißerische Volksverdummung verunglimpft, steckt hinter der mittlerweile von allen großen Privatsendern in Auftrag gegebenen Doku-Fiction ein ausgefeiltes Storytelling, das speziell durch seine auf einen Protagonisten fixierte Kameraperspektive und das damit der menschlichen Wahrnehmung entsprechende Erleben von Handlungen und Ereignissen für außergewöhnlich-gewöhnliche Spannungsmomente sorgt. Geniale Indie-Filme wie „Mann beißt Hunde“, in dem ein Kamerateam einen Serienmörder bei seiner 'Arbeit' begleitet, oder das fesselnde, multimedial angelegte „Blair Witch Project“ sollten eigentlich genügen, um die ewige Diskreditierung dieser Gattung als Ausdruck grassierender Bildungsarmut in Luft aufzulösen. Trotzdem lohnt sich ein Blick in die Literatur, da sich auch hier immer wieder zumindest Anleihen an diese Erzählform finden, die den Geschichten eine eigene Würze verleihen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Gros der Kinderbücher nach diesem Prinzip funktioniert, entspricht es doch ganz und gar der infantilen, in der eigenen Wahrnehmungsposition gefangenen Welterfahrung. So begleitet zum Beispiel Erwin Moser seine tierischen Protagonisten jeweils einzeln mit klaren, sensibel pointierten Sätzen und warmherzigen, aussagekräftigen Illustrationen durch ihre einfachen aber überaus liebenswerten Frühlings- und Sommergeschichten „Wo wohnt die Maus?“ (Nilpferd). / Medias in res, mitten rein in die Action findet sich auch in vielen, wenn nicht den besten Short Stories eine weitere Erzählregel der Scripted Reality: Der äußere, in Handlung und Kommunikation ausgetragene Konflikt spiegelt den inneren Konflikt, die Motivation der Protagonisten. Kommt die Geschichte mal nicht um einen mehr oder minder verquasten Seeleneinblick herum, hat es die Literatur sogar einfacher als das TV-Format: Ihr reichen beiläufige Nebensätze, wo sich die Storyliner des Kunstgriffs der situativen und rückblickend gesetzten O-Töne bedienen müssen. Das Resultat in seiner mitreißendsten Form ist in beiden Künsten jedoch das gleiche. Es entstehen nachhallende Portraits, die uns den einzelnen Anti-/Helden plötzlich greifbar, verständlich machen, ganz, ganz nahe bringen – oder wie es Hollywoods Multitalent James Franco in der ersten seiner unsentimental, dennoch eindrücklich geschilderten Teenager-Episoden aus einer trotz aller Behütetheit erschreckend leeren Jugend im „Palo Alto“ (Eichborn) formuliert:

„Wenn wir alle immer gefilmt werden würden, könnten wir uns die Filme der anderen ansehen, und dann wüssten wir von allen, wie sie wirklich sind“.

Stattdessen bleibt der Mensch auf seine Ich-Perspektive reduziert, was im Leben hinderlich sein mag, der fiktiven Non-Fiction jedoch eine eigene, nahezu kriminalistische Dynamik verleiht. Die Hauptfigur muss sich ihre Umwelt erschließen und durchläuft dabei selber eine Entwicklung wie die wunderbar verkorkst-zynische Privatdetektivin Lucy in Virginie Despentes' Pulp-Sozialsatire „Apokalypse Baby“ (Berlin), die nicht nur in die Abgründe einer völlig verfahrenen Jugend, sondern auch ihrer eigenen Liebesfähigkeit stürzt. Verlässt die französische Hard-Boild-Autorin dabei auch immer wieder mit allwissenden Einschüben den Scripted-Reality-Pfad, / so dualisiert ihn Simone Felice regelrecht. Mit „Black Jesus“ (Heyne), einem im Irak-Krieg versengten und erblindeten Jungsoldaten sowie der von ihrem neidzerfressenen Freund verstümmelten Tänzerin Gloria hat der Singer/Songwriter zwei Charaktere erschaffen, deren Wege zueinander er, wider ihrem vermaledeitem Schicksal, zu einem melancholisch-düsteren, dennoch hoffnungsvoll-aufbegehrenden Liebes-Album verwebt. Eine traurig-schöne Story, die jeder Producer für zu fiktional/singulär erachten würde. Doch: Leider, respektive gottlob schreibt das Leben seine Drehbücher nicht allein für das Nachmittags-Bügel-TV-Programm.

LARS ALBAT

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