Manche Klischees erweisen sich als langlebig. Dass Künstler ausschließlich für ihre Kunst leben und gern in mönchischer Abgeschiedenheit kreativ sind, ist eine Vorstellung, die zwar gern dahergesagt und aufgrund romantischer Verklärung aufrecht erhalten wird, die jedoch ebenso falsch ist wie das Ammenmärchen, dass es dem Künstler egal wäre, wie sein Werk von der Öffentlichkeit aufgenommen wird. Auch der Künstler ist nur Mensch und lebt gleichermaßen von Feedback und der Zuwendung seines Publikums wie von Engagements und Nachfrage. Der Applaus mag des Künstlers Brot sein, doch ist die Gage die Währung, mit der echtes Brot bezahlt wird. Fragen nach finanziellen Perspektiven eines Lebens im Zeichen des kreativen Ausdrucks schweben über jeder Künstlerbiografie. Nicht gar so drängend, oft genug jedoch nicht minder frustrierend, fällt das wechselseitig-angespannte Verhältnis zwischen Künstler und Publikum aus. Wer gehört wem? Wer ist wem ausgeliefert? Wer verlangt? Wer liefert? Wer darf Erwartungen stellen? Wer hat sie zu erfüllen und was macht das künstlerische Dienstleistungsverhältnis mit den Menschen, die sich ihm verschrieben haben? Ein Themenkreis, dem sich das kreative Gespann Mouvoir, bestehend aus Regisseurin Stephanie Thiersch und Choreografin/Tänzerin Viviana Escalé, mit der Tanzperformance „Bruxia“ widmet.
Auf eine Story im klassischen Sinne wurde weitestgehend verzichtet. Kein Plot und kein Fiktionsvertrag stand Escalé bei ihrer One-Woman-Show in der Orangerie im Weg, wenn es darum geht, aus dem Inneren eines Stuhlkreises heraus den üblichen Deal zwischen Performer und Zuschauer („Ich zahle – du tanzt für mich“) zu unterlaufen. Grazie und Anmut werden dabei mehr als einmal der Verstörung und der Provokation weichen. Ihren Körper, den sie zu Beginn in hypnotisch schleppender Langsamkeit vom Rand der Bühne in ihr Zentrum schraubt und der das Scheinwerferlicht gleichermaßen zu suchen und zu fürchten scheint, nutzt Escalé dabei immer wieder als Werkzeug, um Irritation hervorzurufen. So kleidet sie sich an einer Stelle in ausgeleierte Jogging-Kleidung, die mehrere Nummern zu groß ausfallen, so dass es wirkt, als verschwände ihr athletischer Körper im Inneren der Stoffe und würde durch ein Wesen mit bizarren Proportionen ersetzt, das seinen Körper nach Belieben dehnen oder verformen kann. Dieser Körper wollte weder gefallen noch betören, sondern sich dem staunenden Blick entziehen und Verwunderung hervorrufen.
Die Pausen zwischen den Tanzparts nutzte Escalé derweil, um die vierte Wand zu durchdringen, mit dem Publikum auf Du zu kommen und über die Probenzeit und Tänzerkarrieren zu plaudern. Dies solle ihr letztes Projekt werden, gab sie, während einer Umkleidepause vor den Augen der Besucher, im Small Talk-Ton zu Protokoll. Nach mehr als genügend Jahren auf Bühnen und mit der 40 im Rücken gehe es so nicht mehr weiter. Wozu das alles? Scheinbar spontan und aus der Hüfte versuchte sie, den direkten Kontakt mit Besuchern herzustellen. Doch ist dieser Dialog wirklich erwünscht? Natürlich ahnte der geneigte Gast, dass auch diese vermeintliche Konzeptlosigkeit Teil eines Konzepts war und wurde misstrauisch. Warum sollte ein Performer, der nicht performt, den Dialog zum Publikum suchen? Ist dies nicht seine eigentliche Funktion? Was, wenn das Verhältnis zwischen Künstler und Konsument doch nicht so harmonisch ausfällt wie gewünscht, sondern sich Komplikationen aufstellen? Was, wenn der Darsteller nicht mehr darstellen will, was der Kartenkäufer sehen will? Was, wenn das Kunstwerk nicht mehr gefallen will? Was, wenn sich die Tänzerin im (vermeintlichen) Karriereherbst vom Publikum abwenden will, bevor ihr dieses zuvorkommt?
Auch wenn es Escalé und Thiersch dabei konzeptionell nicht auf den offenen Bruch mit dem Publikum angelegt hatten, konnte ein Faible für kleine bis größere Albernheiten und die Unterwanderung von Erwartungshaltungen zum höheren Genuss des Abends nicht schaden. Mehr als einmal integrierte Escalé interaktive Elemente in ihre Performance, die allesamt auf wunderbar unprätentiöse Art ins Nichts verliefen. Mal wurden Gäste dazu angehalten, fiktive Briefe einzulesen, mal wurden mit Schnüren quer über die Bühne Netze gespannt, die von ihr bespielt wurden und an wieder anderer Stelle wurden Gäste gebeten, Lebensmittel in Mustern auf dem Boden auszulegen, und oft schien es, als ginge hier so manch launiger Spaß auf Kosten des Publikums. Während die meisten Besucher die ungezwungene Absurdität begrüßten und annahmen, fühlten sich doch vereinzelt Gäste zu einem verfrühten Aufbruch herausgefordert. Zugegeben: Hin und wieder entwickelt sich die Aufkettung von Späßen und Leerläufen in Richtung Wahllosigkeit, was an so manchem Geduldsfaden nagte. Eine forciert in Richtung naiver Entrückung gebürstete Musicalnummer zum NDW-Schlager „Eisbär“ (von Grauzone) geizte mit Kontext, erheiterte die einen und ermüdete andere.
Die tieferliegende Frage, wer in der parasitären Beziehung zwischen Performer und Betrachter der schlimmere Quälgeist des anderen ist, blieb offen. Wessen Blick haftet gieriger am anderen? Wer macht sich abhängiger von der Aufmerksamkeit des Gegenübers? Wessen Erwartungshaltung wird erfüllt und wer verbiegt sich für wen? Ohne ins allzu Didaktische zu verfallen, fanden Thiersch und Escalé im Finale ein eindringliches Bild für das „Besitzverhältnis“ zwischen Künstler als Produkt und zahlendem Gast als Bestimmer. So forderte Escalé das Publikum auf, ihren Körper nach Belieben zu gestalten und keine falsche Scheu dabei an den Tag zu legen. In Nylonstoff gehüllt, ermunterte sie die zunächst sehr zögerlichen Besucher, ihr zum einen mit Baumwolle rund um Brüste und Po Rundungen der Wahl zu formen, sie zum anderen mit einer Perücke zu schmücken und nicht zuletzt Lippen, eine Vagina und (insgesamt vier) Brustwarzen mit Knete zu entwerfen und anzupappen. Das Ergebnis dieses auf die Publikumsbedürfnisse abgestimmten Körperbildes glich einer an David Cronenbergs Fieberträume angelehnten Monstrosität fern jeder Harmonie.
Als sie schließlich in eben jener Aufmachung zum Finale ansetzte und zu donnernden afrikanisch angehauchten Beats über die Bühne berserkerte, die zuvor befestigten Körperformen immer mehr verrutschten und schließlich wie immer seltsamere Mutationen anmuteten, schien der Wahnsinn komplett. In diesem Moment jedoch hatte „Bruxia“ das eine prägnante, alles auf den Punkt bringende Bild gefunden, auf das über eine oft heitere, gelegentlich zähe und manchmal redundante Stunde hingearbeitet wurde. Wenn der fragliche Moment dann jedoch von so belebter Hysterie und manischer Kraft ist, lässt dies so manche Länge verzeihen.
„Bruixa“ | 7., 8., 9.6. 20 Uhr | Tanzhaus NRW, Düsseldorf | 30., 31.10. 20 Uhr | Orangerie – Theater im Volksgarten, Köln | mouvoir.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Leerstelle der Verdrängung
„Untiefe“ an der Tanzfaktur
Requiem auf die Natur
„Goodbye / Farewell“ in der Tanzfaktur
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Der Witz und das Unheimliche
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Prolog 08/24
„Draußen geht viel mehr als man denkt“
Schauspielerin Irene Schwarz über „Peer Gynt“ beim NN Theater Freiluftfestival – Premiere 08/24