Zuletzt hat es Sebastian Schipper mit seinem Berlinale-Beitrag „Victoria“ eindrucksvoll geschafft, einen ganzen Film in nur einer einzelnen Einstellung zu drehen. Er begab sich darin mit seinen Protagonisten auf eine Rundreise durchs nächtliche Berlin. Ungleich schwerer dürfte es nun aber Sam Mendes („Skyfall“) gefallen sein, der als Schauplatz für „1917“ (Cinedom, Cinenova, Cineplex, Rex am Ring, UCI, OV im Metropolis und Rex am Ring) die Schützengräben und Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs gewählt hat, in dem zwei Soldaten durch feindliche Linien auf einen gefährlichen Botengang geschickt werden. Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay) erhalten von ihrem General (Colin Firth) den Auftrag, den Kommandanten einer weiteren britischen Division zum Abbruch eines für den nächsten Morgen geplanten Angriffs zu bewegen, bei dem diese offensichtlich in eine Falle des deutschen Feindes laufen würde. Die beiden jungen Männer müssen sich im hellen Tageslicht hinter Feindeslinie begeben, um ihren Auftrag noch rechtzeitig auszuführen, weil ansonsten 1600 Briten in den sicheren Tod geschickt werden. Noch näher dran am grauenvollen und dreckigen Alltag des Krieges als in „1917“ kann man kaum sein. Kameramann Roger Deakins („Blade Runner 2049“) umkreist die Hauptfiguren aus nächster Nähe, rennt ihnen rückwärts voraus oder verfolgt sie mit dem Blick über die Schulter, findet aber immer wieder neue und interessante Perspektiven, die man umso mehr zu schätzen weiß, wenn man von den Produktionshintergründen weiß. Dass hier nämlich größtenteils ohne Schnitte gedreht wurde, dass nirgendwo Kameraschienen aufgebaut werden konnten und alles mit der Kamera auf der Schulter bewerkstelligt werden musste, jedes Robben durch den Schlamm und jeder Sprung ins Wasser. Darüber hinaus ist es Sam Mendes aber auch eindringlich gelungen, die Schrecken des Krieges zu bebildern und die Fragwürdigkeit der Befehle herauszustreichen.
Dieser Film erzählt von Udo Lindenberg, wie wir ihn nicht kennen. Er erzählt von seinen jungen Jahren, bevor er zur Ikone wurde. „Lindenberg! Mach dein Ding“ (Cinedom, Cineplex, Residenz, Rex am Ring, UCI) endet, als der Durchbruch erfolgt. Regisseurin Hermine Huntgeburth blickt zurück in die Kindheit, wo der sechsjährige Udo zur Wohnzimmer-Performance seines angeduselten Vaters (Charly Hübner) auf dem Blecheimer trommelt. Dann ist Udo fünfzehn und verlässt die westfälische Heimat, beginnt eine Kellnerlehre in Düsseldorf. Mit siebzehn spielt der ehemalige Blechtrommler in Libyen Schlagzeug für die Gis. Und dann schreiben wir das Jahr 1971: Der Jazz-Schlagzeuger ist Anfang 20, landet in Hamburg und findet seinen Weg. Er knüpft Freundschaften, zu Paula (Ruby O. Fee), die ihm zur Wegbegleiterin wird, zu Steffi Stephan (Max von der Groeben), seinem künftigen Panik-Partner. Der Talentsucher Mattheisen (Detlev Buck) wird auf ihn aufmerksam. Das erste Album ist ein Ladenhüter. Ab jetzt will Udo deutsch rocken, was Zerwürfnisse mit sich bringt und seinen vorübergehenden Wegzug nach Berlin. Aus Ost-Berlin kehrt er mit Liebeskummer zurück nach Hamburg. Das Panikorchester formiert sich, Udo Lindenberg erhält eine zweite Chance. Der Pionier des deutschen Rocks ist geboren. Der Brückenbauer zwischen Ost und West. Und der Weg ist frei zu 700 Songs, 80 Singles und 50 Alben. „Jan Bülow ist ‘ne Rock’n’Roll-Rakete“, sagt Udo Lindenberg über den Mann, der ihn hier darstellt. Jan Bülow („Radio Heimat“) bezeichnet Udo Lindenberg als „ein Wesen aus einer anderen Zeit und gleichzeitig zeitlos“, als „komischen Vogel“. Mit starken Momenten, etwa als Udo ans Mikro tritt im „Onkel Pö“, gelingt ein nüchternes, episodisches Biopic, das Lindenbergs erste Lebensphase womöglich recht treffend zeichnet.
Elia Suleiman („7 Tage in Havanna“) bebildert gern seine Sorge um die Welt. „Vom Gießen des Zitronenbaums“ (Odeon) nennt er seinen „lustigsten“ Film, und tatsächlich ist der Palästinenser dem Alltagsirrsinn nie mit mehr Humor begegnet. Suleiman verlässt Nazareth, wo er seine engstirnigen Landsleute nicht mehr begreift. In Paris beobachtet er durch leere Straßen ratternde Panzer und ein bizarr anmutiges Polizistenballett auf Hoverboards. In New York, wo vom Opa zum Baby jeder eine Knarre trägt, jagen Cops die einzig unbewaffnete Person durch den Central Park, einen Engel. In strenger Symmetrie Halt suchende Bilder, dazu Suleimans großäugiges Schweigen vor dem Lärm von Sirenen und Malls ergeben eine ungeheuer traurige, unglaublich komische Burleske über unsere schiefe Gegenwart, die an Buster Keaton erinnert und Ephraim Kishon.
Außerdem neu in den Kinos: Rita Zieglers Künstlerdoku „Albrecht Schnider - Was bleibt“ (Odeon), Tim Lienhards Doku „Character One: Susan“ (Filmpalette), Makoto Shinkais herzerwärmend erzähltes Anime „Weathering with You – Das Mädchen, das die Sonne berührte“ (Cinedom, Cineplex, Rex am Ring, UCI) und Adil El Arbis und Bilall Fallahs etwas verspätete Action-Fortsetzung „Bad Boys for Life“ (Autokino Porz, Cinedom, Cineplex, Rex am Ring, UCI, OV im Metropolis). Dazu startet Dror Zahavis völkerverbindendes Drama „Crescendo #makemusicnotwar“ (OmU im Odeon und Residenz).
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