Während sich die Textilfabrikanten langsam hochgearbeitet haben, beginnt der Besucher im LVR-Industriemuseum Textilfabrik Cromford die Ausstellung „Maschen, Mode, Macher“ schon ganz oben. Das wird eine Zeitreise durch 200 Jahre Strumpfmode. Langweilig ist das beileibe nicht, ganz im Gegenteil, oft hat man Mühe die farbigen Exponate zeitlich einzuordnen, Formen und Muster scheinen überaus modern, sind aber bereits Jahrzehnte alt. Klar, die Großkopferten trugen immer schon Socken aus Seide, doch Massenware scheinen die nie gewesen zu sein, wie man unschwer an den zahlreichen Ausbesserungen sehen kann.
Vierter Stock im historischen Bau. Hinter Glas das erste Highlight, ein Original-Strumpf vom Alten Fritz (1712-1786). Die Socke, seit Generationen im Firmenbesitz der Familie Esche, hat die Aura einer Reliquie. Unscheinbar, braun, auch sie oft gestopft. Aber Friedrich der Große (Schuhgröße 39/40, nur mal so als Indiz) hatte bereits Wintermode an den kleinen Füßen. Seide mit Wolle gefüttert, doch ich denke der preußische Hohenzollern-König war eher zweckmäßig denkender Soldat, denn Modegockel. Dann geht es auch schon los mit dem Aufstieg der Familie Esche aus Limbach. Mit ihrer Ahnengalerie beginnt der Rundgang durch eine Ausstellung mit mehr als 300 Exponaten, Fotos, Filmen und Plakaten, die nebenbei auch die deutschen Strumpfdynastien portraitiert und die technischen Innovationen zeigt. Waren früher Familienbetriebe wie die Esches, Bahners oder Kunerts an der Spitze, dominieren heute die Falkes die internationale Branche, die dank der Globalisierung immer neue Märkte aufstößt. Dass Kapitalismus rockt und strumpft, wussten schon die Industriellen Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Mental machte den Anfang aber Johann Gottfried Brügelmann, der nicht nur 1784 die erste mechanische Baumwollspinnerei Cromford in Ratingen gründete, sondern hier auch auf Wirkstühlen und in Heimarbeit Strümpfe produzieren ließ und damit reich wurde. Kommen wir noch mal zurück in die sogenannten „Goldenen 1920er Jahre“, die ersten Netzstrümpfe wurden da schon in Paris getragen. Material Seide und Metall, die gewollte Laufmasche kam als Muster auf für schicke Socken, Perlon (1939/40) und Nylon (1940) veränderten die Beinmode völlig, der Krieg ließ alles stocken, und schon sind wir wieder bei kratziger Wolle und der Deutschen Reichkleiderkarte von 1940 in der Vitrine. Man hätte auch einen Augenbrauenstift hinlegen können, mit dem das Auge aufs nackte Bein betrogen wurde.
Also machen wir runter in die zweite Etage und hinein ins Deutsche Wirtschaftswunder. Die Dynastien wachsen, Werbung, Hollywood und erste Modegurus machen aus dem weiblichen Bein ein Kultobjekt. Die Firmenchefs landen auch schon mal auf einer Spiegel-Titelseite (15.8.1962). Jetzt ist bereits die Verpackung wichtig, jetzt ist alles schön nahtlos, manchmal auch formlos – aber mit Zwickel, und es gibt in den 1970ern noch in Kaufhäusern Reparaturgeräte für die bösen Laufmaschen. Wahlspruch bei Kunert: „Wer das Garn beherrscht, beherrscht den Markt.“ Genau. Jetzt wird nichts mehr verkauft, was warm halten soll, sondern sexy Lifestyle suggeriert. Gut, dass der Alte Fritz das nicht mehr erleben musste, die Ausstellung hätte ihm sicher gefallen.
Maschen, Mode, Macher | bis 22.12. | LVR Industriemuseum – Textilfabrik Cromford, Ratingen | 02234 99 21 555
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