„Die Fotografie hat mein Leben gerettet“, sagt Judith Joy Ross bei ihrem Besuch in Köln, wo die Photographische Sammlung die bisher größte Einzelausstellung der Amerikanerin zeigt. Gerettet hat die Fotografie die damals 35Jährige in einer Phase der Depression, in die Judith Joy Ross 1982 nach dem Tode ihres Vaters geraten war. Damals fielen ihr im nahegelegenen Stadtpark von Weatherly, einem kleinen Ort in Pennsylvania, die spielenden Kinder auf. „Sie zeigten mir, dass es sich lohnt zu leben, und ich erlaubte mir, ihre Schönheit zu sehen“, erinnert sie sich. Heute noch gerät sie in Begeisterung, wenn sie vor dieser ersten Serie von Portraits steht und über die Kinder spricht, die gemeinsam Eis essen, am Ufer eines Teichs spielen, oder wie die Jugendlichen in einer Mischung aus Langeweile und erwachender Neugier in die Kamera schauen.
Tatsächlich muss sich ihnen ein interessanter Anblick geboten haben, da Judith Joy Ross mit einer Plattenkamera arbeitet und dieses Ungetüm mit Stativ bis in die Uferböschung schleppte. Man sieht auf ihren Bildern, was es heißt, ein Kind zu sein. „Wir vergessen das als Erwachsene, und ich musste es auch erst wieder lernen“, sagt sie. Warum ist es wichtig, die Welt wieder aus Kinderaugen zu sehen? Weil wir mit der Wahrnehmung für das Kindsein auch wieder die Verbindung zu unseren Gefühlen herstellen. Die Amerikanerin ist selbst erstaunt über das „Wunder“, das ihr mit ihren Arbeiten immer wieder gelingt. Sie vermag die Vitalität ihrer anonymen Modelle im Bild zu bannen, als lägen die Gefühle auf einer Oberfläche, die von der Kamera noch dokumentiert werden könnte.
Eine besondere Schönheit ist im Ernst dieser Gesichter. Ross dokumentiert ihn und gibt eine Vorstellung davon, dass sich hinter jedem Gesicht eine denkende und fühlende Persönlichkeit befindet. Die Kinder stammen oftmals aus ärmlichen Verhältnissen, und eine Spur Melancholie durchzieht diese Bilder, die eine Ahnung von den Schwierigkeiten geben, die in der Zukunft auf diese Kinder warten. Ross ist eine engagierte Künstlerin, wenn sie auch mit leisen Mitteln arbeitet. Die Ausstellung, die mit 150 Arbeiten vielleicht zu üppig ausgestattet ist, so dass manches starke Einzelbild im dichten Umfeld an Wirkung einbüßt, enthält auch Portraits von Kongress-Abgeordneten und Demonstranten, die stumm gegen den Irak-Krieg protestieren. Immer begegnet man Persönlichkeiten auf Augenhöhe, stets feiert das Portrait die Würde des Gegenüber. Diese Wertschätzung ist auch Teil der Ästhetik, denn die Bilder werden goldgetont, wie frühe Fotografien, so dass jedes Portrait wirkt, als sei es für die Ewigkeit gemacht.
Kombiniert wird die Ausstellung mit zwei weiteren Bilderschauen. Cuny Janssen zeigt „Porträts und Landschaften“ in Raum 3. Eindrucksvoll ihre Bilder von der japanischen Insel Amami, wo Cuny Janssen das Leben der Kinder beobachtete und dadurch auch einen Blick auf ein dörfliches, uns unbekanntes Japan eröffnet. In Raum 2 ist die fulminante Fotoserie „Stadt der Kinder“ des Belgiers Jean-Paul Deridder zu sehen. Durch Zufall hatte Deridder in Berlin Aufnahmen von einem Spielplatz auf einem verwilderten Grundstück gemacht. In der Dunkelkammer erkannte er die Schönheit der kleinen architektonischen Skulpturen, die die Kinder aus einigen Holzstücken zusammenfügten. Über zwölf Jahre hat er die immer wechselnden Bauten dokumentiert. Eine Serie, die viel vom Wesen der Kinder und von dem der Architektur erzählt.
Ausstellungen bis 5.2.2012 I tägl. außer Mi 14-19 Uhr, Mo Eintritt frei I Mediapark 7, Köln I Katalog zu Judith Joy Ross 39,80 €, zu Jean-Paul Derrider 20 €
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