In den deutschen Kinos bildet „Oslo Stories: Sehnsucht“ den Abschluss dieser beeindruckenden Trilogie von Dag Johan Haugerud. Jede Episode ist eine Empfehlung wert und wäre ein Kandidat für den Film des Monats, aber dafür bleibt gar keine Zeit in dieser geballten Startfolge. Haugerud betrachtet in seiner Trilogie Denk- und Verhaltensmuster, Beziehungen und ihre Spielarten, Sehnsüchte. In „Träume“ steht seine junge, unerfahrene Protagonistin noch mitten in ihrer sexuellen Erweckung: die erste Liebe, und eine verbotene gleich dazu. Davor („Liebe“) hatten sich zwei reifere Hauptfiguren schon wieder selbstbewusst von klassischen Beziehungsschablonen gelöst. In „Sehnsucht“ (Cinenova, Filmpalette, Odeon, OFF Broadway, auch in OmU) nun werden zwei Schornsteinfeger und Familienväter aus ihren Rollen, aus ihren konformen Beziehungsmustern herausgeholt. Auslöser dafür sind Blicke: Der eine (Jan Gunnar Røise) wird von einem Kunden spontan zum Sex verführt, nachdem der Kunde ihn so angeschaut hat, wie ihn noch nie jemand angeschaut hat. Der Blick indes, der den christlich verankerten Teamleiter (Thorbjørn Harr) aus der Bahn wirft, stammt von David Bowie und erscheint ihm im Traum: Ein Blick, der Geborgenheit verheißt und ihn so betrachtet, als sei er eine Frau. Bowies purer Blick auf das innere Wesen, vom Geschlecht losgelöst: eine Erschütterung – und ein Traum, der wiederkehrt. Die ahnungslose Ehefrau hängt indes einen Traumfänger übers Bett. Die Oslo-Stories sind intensive, dialogreiche Erfahrungen. Doch Haugerud weiß, sie abzufedern. Mit Ruhepausen. Mit Humor. Mit satirischen Diskursen über Tattoos, „Flashdance“ oder YouTube-Kanäle. Über uns. Über Rollen. So bleibt die Schwere auch in „Sehnsucht“ leicht, Haugerud wahrt den Rhythmus. Haugerud eröffnet Horizonte im Hinblick auf Denk- und Verhaltensmuster, im Hinblick auf das Miteinander. Das ist so sinnlich wie inspirierend.
Die nach der autobiografisch gefärbten Tragikomödie „Lieber Leben“ (2016) und dem Coming-of-Age-Film „Schulalltag“ (2019) dritte Zusammenarbeit des Autoren- und Regie-Duos Mehdi Idir und Fabien Marsaud (der sich als Grand Corps Malade auch als Musiker und Poetry-Slammer einen Namen gemacht hat) wagt sich an das Porträt einer der größten französischen Chanson-Ikonen: Charles Aznavour. Aznavour kam 1924 als Charles Aznavourian in Paris zur Welt. Sein Vater war aus Georgien eingewandert, seine Mutter vor dem türkischen Völkermord an den Armeniern geflohen. Mit schwarz-weißen, dokumentarischen Filmaufnahmen dieses Genozids beginnt auch „Monsieur Aznavour“ (Cinenova, Odeon, Residenz, Rex, Weisshaus). Die Bilder werden dann aber schnell farbig und zeichnen ein pittoreskes, detailverliebt ausgestattetes Szenario des Pariser Künstlerviertels Quartier Latin, dem man die Produktionskosten von 40 Millionen Dollar jederzeit ansieht – ohne, dass es protzig wirkt. Dann überfalen die Nazis Frankreich, die Familie unterstützt den Widerstand und versteckt Juden. Der fast erwachsene Charles (Tahar Rahim) tritt mit seinem besten Freund Pierre Roche (Bastien Bouillon) mit witzigen Couplets oder Coverversionen schon bekannter Chansoniers wie Charles Trenet in Nachtbars auf. Von eigenen (Liebes-)Liedern rät man ihm ab, weil er „zu hässlich sei und eine allzu kratzige Stimme habe“. Doch gerade die macht Édith Piaf (Marie-Julie Baup) auf ihn aufmerksam, die ihn und Roche als Vorprogramm mit auf Tournee nimmt. In der Beschreibung des künstlerischen Dreiecks Charles, Pierre und Édith zeigt der bis dahin wie im Schnelldurchlauf durch die Zeit- und Privatgeschichte hechelnde Film seine größte, inszenatorische Qualität. Nicht zuletzt geadelt durch das authentische Spiel der Protagonisten: Marie-Julie Baup spielt mit viel Empathie die bisweilen tyrannische Diva und Tahar Rahim und Bastien Bouillon geben ein (musikalisches) Freundespaar, das in seiner mitreißenden Symbiose an das Musical-Duo Gene Kelly und Donald O‘Connor in „Singin‘ in the Rain“ erinnert. Rahim bringt dazu noch das Kunststück fertig, die Romantik und Melancholie von Aznavours Texten zu vermitteln, ohne dessen Stimme zu kopieren. Dafür hat er sich die Mimik und Gesten der Ikone perfekt zu Eigen gemacht und hält glaubwürdig die Balance zwischen Nähe und Distanz zu seiner Rolle.
Außerdem neu in den Kinos: der Neo-Western „Harvest“ (Lichtspiele Kalk) von Athina Rachel Tsangari, das Drama „Good News“ von Hannes Schilling, die Dokumentation „Archiv der Zukunft“ (Filmpalette, Bonner Kinemathek) von Joerg Burger, das Live-Action-Remake „Lilo & Stitch” (Cinedom, Cineplex, Rex, UCI) von Dean Fleischer-Camp und, bereits seit dem Wochenende im Einsatz, „Mission: Impossible – The Final Reckoning“ (Cinedom, Cinenova, Cineplex, Metropolis, Residenz, Rex, UCI) von Christopher McQuarrie.
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