
Nuestro Tiempo
Mexiko, Frankreich, Deutschland, Dänemark, Schweden 2018, Laufzeit: 178 Min., FSK 12
Regie: Carlos Reygadas
Darsteller: Carlos Reygadas, Natalia López, Phil Burgers
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Bildgewaltiger Ehe-Western vor faszinierender Naturkulisse
Panoramen einer Ehe
„Nuestro Tiempo“ von Carlos Reygadas
Carlos Reygadas schafft es immer wieder: Er bannt Momente auf die Leinwand, die wirklicher als das Leben erscheinen. Es sind häufig schockartige Momente, die einem ganz unvermittelt die Tragweite des irdischen Daseins im wörtlichen Sinn vor Augen führen. Mitunter sind diese ‚Schocks‘ aber auch ganz zarte Momente von existentieller Tragweite. Vielleicht gelingen Reygadas diese Szenen, weil er zu großen Teilen mit Laiendarstellern dreht. Der mexikanische Autodidakt führt uns mit ihrer Hilfe in fremde Welten – seien es ländliche, folkloristische Regionen, religiöse Gemeinschaften oder intellektuelle Zirkel.
Im Zentrum von „Nuestro Tiempo“ steht Juan, ein international anerkannter Schriftsteller. Er lebt nicht in der kulturell brodelnden Metropole, sondern in einer einsamen Ebene, in der er zusammen mit seiner Frau Esther eine Farm betreibt. Zuchtbullen halten die Eheleute auf der Farm, die sie mit ihren drei Kindern und dem Personal bewohnen. Mitunter kommt Besuch und es werden Feste gefeiert, nur selten führt es sie in die Hauptstadt. Bei einem seiner Besuche auf der Farm kommt der amerikanische Gringo Phil Esther näher. Sie geht auf seine Avancen ein. Das scheint zunächst kein großes Problem zu sein, leben Juan und Esther doch in einer offenen Beziehung. Juan ermutigt seine Frau sogar sich mit Phil zu vergnügen. Doch sein Großmut und seine Freiheitsliebe sind zugleich begleitet von Zweifeln, Misstrauen und Argwohn. Juan gibt sich liberal und offen, zeigt sich im Folgenden aber vor allem als Manipulator und Intrigant, der alles versucht, um die Fäden in der Hand zu halten. Sein raffiniert versteckter Kontrollzwang übergeht die Gefühlsebene seiner Frau komplett. Genauer: Juan maßt sich an, Esther besser zu verstehen als sie sich selbst. Ein klassischer Fall von Mansplaining, das die Beziehung langsam vergiftet.
Der Film beginnt jedoch in einer scheinbaren Idylle, zeigt spielende Kinder an einem See, dann Jugendliche am Ufer, die flirten, und schließlich die Erwachsenen, die einen gelungenen Tag auf der Farm bei Musik und Alkohol beschließen… Das Szenario erscheint freundlich, doch leichte Spannungen sind auch hier schon zu spüren. Regisseur Reygadas erfühlt diese Spannungen, die vor allem von dem libertinär wirkenden Juan ausgehen, in langen, ruhigen Einstellungen. Er nimmt sich Zeit für seine Beobachtungen. In seinem knapp dreistündigen Film umkreist er das Leben der fünfköpfigen Familie auf der Farm, der Angestellten und der Freunde. Bei der Besetzung mit Laien geht Reygadas in seinem neuen Film so weit, seine komplette Familie als Filmfamilie zu besetzen: Reygadas spielt Juan, seine Frau Natalia López spielt Esther und die drei gemeinsamen Kinder spielen die Kinder des Paars. Das birgt die Gefahr, dass man den Film autobiografisch lesen könnte. Als Gewinn dieser Überschneidung beginnen die Szenen immer wieder zwischen Fiktion und scheinbarer Dokumentation leicht zu vibrieren.
In die Alltagsbeschreibungen brechen immer wieder überraschende Szenen ein, die zwar allegorischen Gehalt haben, aber in ihrer unmittelbaren Präsenz dokumentarischen Charakter: wenn ein Bulle ein vor einen Karren gespanntes Pferd angreift und tötet – und beinahe auch die sich im Karren verkriechenden Cowboys. Oder wenn ein Kampf zwischen zwei Bullen mit dem Absturz des Schwächeren von einer Klippe endet. Es gibt auch eine wunderbar friedliche Sterbeszene, deren Kraft ganz positiver Natur ist. Und einmal lädt uns Reygadas zu einem Höhenflug ein, wenn Esther aus dem Off einen wunderbaren Liebesbrief an Juan vorträgt, während die Kamera an der Unterseite eines Flugzeugs den Anflug von einer bewaldeten Bergregion über die Großstadt bis zur Landebahn einfängt. Reygadas stellt sich mit diesen Bildern – häufig sind es lange Einstellungen, die die Geduld des Zuschauers herausfordern – gegen ein rein literarisches Kino, das nur Handlung bebildert, statt mit Bildern zu erzählen. „Nuestro Tiempo“ ist Filmpoesie mit großartigen Bildern, einem ganz eigenen Rhythmus und faszinierenden Perspektivwechseln.
(Christian Meyer-Pröpstl)

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