Er war der „Meister“ der japanischen Fotografie. Shomei Tomatsu galt den Stars der heutigen Szene wie Daido Moriyama, Nobuyoshi Araki oder Yutaka Takanashi mitunter sogar als der „Godfather“ der Fotografie. Am 14. Dezember 2012 ist Tomatsu auf Okinama im Alter von 82 Jahren einem Gehirntumor erlegen. Tomatsu stellte über Jahrzehnte so etwas wie das Bild-Gewissen der japanischen Gesellschaft dar. Er war es, der seine Landsleute mit den Fotografien der vernarbten Gesichter der Atombombenopfer konfrontierte. Von ihm stammt das Bild der Uhr, auf der die Zeit um 11.02 in Nagasaki stehenblieb. Tomatsu hat Japans Entwicklung mit seiner Kamera begleitet. Er beobachtete die Amerikanisierung nach dem Weltkrieg und fotografierte das Aufbegehren der jungen Generation in den 60er Jahren.
Die Ausstellung in der Galerie Priska Pasquer präsentiert Arbeiten von Tomatsu, die schweigsame Momente zeigen, in denen sich nur eine Gardine leicht bewegt, in denen eine Frau vor Lust oder Schmerz aufschreit oder ein Steinewerfer auf der Straße seinen Zorn entlädt. Tomatsu lieferte die fotografischen Ikonen der Epoche, wie etwa jenen Moment 1969, als ein roter Farbbeutel auf einer Glasscheibe zerplatzt und die roten Tropfen an Blut denken lassen. Dass man in dieses Bild auch eine „Schändung der japanischen Flagge“ hineinsah, belegt nur, wie lebendig Tomatsus Ikonen geblieben sind.
Tatsächlich zählt er zu den großen Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weil er nicht auf einen Stil festzulegen war und vor allem für jedes Sujet eine spezifische Bildidee komponierte. Landschaften, Stillleben, erotische Sujets – stets sind seine Fotografien von einer subtilen Intimität, die einem beim Betrachten sofort unter die Haut geht. Tomatsu hatte die Herausforderungen der Farbfotografie schon hinter sich, als die amerikanischen Kollegen in den 70er Jahren die New Color Photography erst für sich entdeckten. Vom dokumentarischen Stil der Reportagefotografie, wie ihn seine Landsleute, aber auch die europäischen Fotografen betrieben, distanzierte er sich schon in den 40er Jahren und bot stattdessen den subjektiven Blick auf das Geschehen seiner Gegenwart.
Die Fotografie hat sich wie keine andere Kunst der Erkundung der Oberflächen unserer materiellen Welt verschrieben. Ein Unternehmen, das niemand so konsequent betrieb wie Shomei Tomatsu, der buchstäblich auf der Haut der Menschen die Historie abzulesen vermochte, der den Blick auf das Universum des Asphalts unter unseren Schuhen warf oder seinen Kopf wendete, um jene Wolke zu fotografieren, die uns die Unendlichkeit des Himmels mit der Zeit vermählt. In der Galerie Priska Pasquer kann man sich bis zum 26. Februar noch einmal in das Werk dieses fotografischen Genies einsehen.
Shomei Tomatsu | bis 26.2. | Galerie Priska Pasquer, Albertusstr. 9-11 | Di-Fr 11-18 Uhr, Sa 11-16 Uhr
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