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Mit dem Boot auf dem Hindukusch unterwegs
Foto: Meyer Originals

Der falsche Bart des Krieges

22. Dezember 2015

„Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz am Theater der Keller – Auftritt 01/16

Dem Krieg mit den Mitteln der Kunst beikommen zu wollen, das ist ein ewiger Versuch der zum Scheitern verurteilt ist. Doch Autor Wolfram Lotz will in „Die lächerliche Finsternis“, die derzeit am Theater der Keller reüssiert, die Waffen – um im Bild zu bleiben – nicht kampflos strecken. Für Lotz ist Krieg der Extremfall für die Kunst. „Ein Film, ein Roman oder Stück über den Krieg ist auf die aller extremste Weise nicht der Krieg selbst“, bekommt der Zuschauer über eine Einspielung erklärt, während er noch seinen Sitz sucht. Dann knallt eine Tür und Diplom-Pirat Ultimo Michael Pussi aus Somalia stellt sich vor und erklärt, dass er „der Einfachheit halber Deutsch spricht“ – es ist die erste von vielen Lächerlichkeiten an diesem Abend, die das prächtig spielende Ensemble dem Publikum um die Ohren haut.

Als Lotz von dem Prozess gegen somalische Piraten vor dem Landgericht Hamburg (mit 105 Verhandlungstagen zwischen 2010 und 2012 einer der längsten der bundesdeutschen Gerichtsgeschichte) erfährt, schreibt er empört eine Verteidigungsrede aus Sicht eines der zehn Angeklagten. Er sei Pirat, erklärt Pussi, und er gibt auch zu, den Frachter Taipan überfallen zu haben. Doch bevor er mit seinem Freund Tofdau, der bei dem Überfall ums Leben kommt, zum Piraten wurde, war er Fischer. Aber das Meer war verseucht und von großen Fischfangflotten leergefischt, und so belegte er an der Hochschule von Mogadischu ein Studium zum Diplom-Piraten, das er mit „sehr gut“ abschloss. Es ist eine engagierte Verteidigungsrede, die Schauspieler Sascha Tschorn da in schwarzem Outfit und clownesk weißgeschminktem Gesicht hält. Mit einfachsten Mitteln entlarvt Regisseur Martin Schulze den Prozess als das, was er war: ein juristischer Zirkus.

Die eigentliche Geschichte dreht sich aber um die beiden Bundeswehrsoldaten Pellner (Matthias Lühn) und Dorsch (Norman Grotegut), die wie einst Martin Sheen in Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ mit einem Boot auf der Suche nach einem durchgedrehten und desertierten Oberfeldwebel sind, um ihn zu liquidieren. Durch die Regenwälder Afghanistans fahren sie mit ihrem Boot den Fluss Hindukusch hinauf. In Afghanistan gibt es natürlich keine Regenwälder und der Hindukusch ist ein Gebirge. Aber mit diesem Kniff reiht sich das Geschehen in die großen künstlerischen Verstehens- und Bewältigungsversuche von kolonialem Elend und postkolonialem Krieg ein. Die Anspielungen auf Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ oder Coppolas Film sind deutlich. Schulze bedient aber keinen Realismus, versucht sich nicht einmal an einer Illusion desselben. Er legt lieber den Vorgang des Theatermachens frei: mit Gaffaklebeband, Theaterspiegel und etlichen falschen Bärten.

Auf ihrer Reise, bei der Pellner unter einer lächerlichen, verkabelten Haube sitzt, begegnen die beiden Bundis im Spezialeinsatz verschiedenen Figuren. In die schlüpft Sascha Tschorn mithilfe der falschen Bärte, die er sich auf der Bühne anklebt. Als italienischer UN-Kommandant überwacht er „die Wilden“ beim Coltan-Abbau und regt sich auf, dass sie sich beim Pinkeln nicht hinsetzen; als fliegender Händler beginnt er seine Verkaufsgespräche mit der Erzählung vom Tod seiner Familie, die bei einem Bombenangriff im Jugoslawien-Krieg umkam; als schmieriger „Halleluja“-Priester wettert er gegen die Verschleierung von Muslimas: „Was ist das für eine Religion, die Frauen dazu zwingt, sich zu verhüllen?“ Mit zynischer Klarheit bringt Lotz so unsere Borniertheit auf den Punkt und das postkoloniale Europa auf folgenden Nenner: Welche falschen Bilder machen wir uns eigentlich vom echten Elend?

Am Ende ist es ein bunter Vogel (Doris Plenert), der über das Theater als das Asylheim für das Schöne, Gute und Wahre räsoniert und sich schließlich als der gesuchte Deserteur entpuppt oder vielmehr „entvögelt“. Selbst hier, wo offensichtlich mit dem Autor die Ebenen und Metaebenen durchgehen, schafft es Schulze mithilfe seiner Spieler, klug Ordnung zu bewahren. Das Resultat ist ein höchst unterhaltsamer und zugleich unbequemer Abend, der den Finger in die Wunden unserer ach so abgefuckten Aufgeklärtheit legt. Chapeau!

„Die lächerliche Finsternis“ | R: Martin Schulze | Do 7.1. 20 Uhr, So 10.1. u. So 31.1. je 18 Uhr | Theater der Keller | 0221 318059

Bernhard Krebs

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