Als Çiçek Bacik nach Deutschland kam, war sie acht Jahre alt. Geboren und aufgewachsen in der Türkei, sprach sie kein Wort Deutsch und wurde kurzerhand für zwei Jahre in eine „Ausländerklasse“ gesteckt, so beschreibt Bacik das selbst. 41 Jahre später hat sie nicht nur einen Doktortitel, sondern auch eine Mission: ihre Geschichte zu erzählen – die Geschichte einer Tochter von Gastarbeitern. Denn Baciks Eltern waren Teil der 14 Millionen Menschen, die im Rahmen von Anwerbeabkommen als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Elf Millionen davon kehrten nach dem Stopp der Abkommen im Jahr 1973 zurück in ihre Heimatländer, der Rest blieb – dauerhaft. Und mit ihnen ihre Geschichten. Geschichten, die oftmals nur als stumme Erinnerungen der ehemaligen Gastarbeiter und ihrer Familien existieren.
Genau hier setzt das von Bacik gegründete Literaturkollektiv Daughters and Sons of Gastarbeiters an. 2015 ins Leben gerufen, verstehen sich die Autorinnen und Autoren des Kollektivs als eine Plattform für Empowerment rund um das Selbstverständnis der Töchter und Söhne der Eingewanderten. Mit ihren Geschichten wollen sie einen Beitrag zur Diversifizierung der Erinnerungskultur und zum Abbau von Stigmatisierung leisten. Das Konzept: Vier oder fünf Autorinnen und Autoren des Kollektivs tragen eine Kurzgeschichte vor, begleitet von eigenen und historischen Fotos. Alle Beiträge sind etwa 15 Minuten lang; im Anschluss gibt es einen Austausch mit dem Publikum. Laut Gründerin Bacik zeige sich dabei, dass die Lesungen des Kollektivs auch ein „Safe Space“ seien. „Viele Menschen aus dem Publikum teilen ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit uns“, sagt Bacik. „Es sind auch schon Tränen geflossen.“
Bacik, die selbst als Grundschullehrerin in Berlin arbeitet, schätzt die oftmalige Verschwiegenheit der ursprünglichen Generation an Gastarbeitern als problematisch für nachfolgende Generationen ein. „Über schwere Erinnerungen wird meist geschwiegen“, sagt sie. „So erfährt die junge Generation kaum etwas über das Leben ihrer Eltern und Großeltern. Das kann sehr belastend sein.“ Genau diese Lücke will das Kollektiv rund um Bacik mit ihren Lesungen schließen. „Wir wollen zeigen, dass es jede Geschichte wert ist, erzählt und gehört zu werden“, so die 49-Jährige. Die Idee zu der Literaturplattform kam ihr beim Besuch einer Lesung mit ihrer Co-Gründerin Ferda Ataman: „Nach der Veranstaltung dachte ich mir, dass es an der Zeit ist, dass wir unsere eigenen Geschichten erzählen.“
Das tun die Daughters and Sons seitdem sehr erfolgreich: Über 30 Autorinnen und Autoren haben sich dem Kollektiv bisher angeschlossen; im vergangenen Jahr veröffentlichte die Gruppe sogar ein Buch, das vom Auswärtigen Amt gefördert wurde. Bacik sieht die Förderung des Auswärtigen Amts als Würdigung der Leistung der Gruppe und der Vergangenheit ihrer Eltern.
Daughters and Sons of Gastarbeiters: Lesung | Schauspielhaus Bad Godesberg | So 16.1. 18 Uhr | 0228 77 80 22
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Mörderische Gesellschaftsstruktur
Georg Büchners „Woyzeck“ am Bonner Schauspiel – Auftritt 01/24
Delegierter Kampf
„Pussy Riot – Anleitung für eine Revolution“ am Schauspiel Bonn – Auftritt 11/22
Den Ekel wegsaufen
„Onkel Wanja“ am Schauspielhaus Bonn – Auftritt 06/22
Wärmestrom der Punks
Sascha Hawemann inszeniert sein Stück „November“ am Schauspiel Bonn – Auftritt 01/22
Von Hexen und Reptiloiden
Lothar Kittstein gibt Einblicke in „Angst“ – Premiere 11/21
Im Wartesaal der Familie
Die rheinischen Theater im Januar – Prolog 12/15
„Was fürcht‘ ich denn? Mich selbst?“
Alice Buddeberg inszeniert Shakespeares „Königsdramen II“ am Schauspiel Bonn – Auftritt 01/15
Vom Arbeiterkind zum Autor
Martin Becker liest im Literaturhaus aus „Die Arbeiter“ – Lesung 04/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24
Gertrude, Celeste und all die anderen
Progressive Frauen in Comics – ComicKultur 02/24
Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24
Umgang mit Krebserkrankungen
„Wie ist das mit dem Krebs?“ von Sarah Herlofsen und Dagmar Geisler – Vorlesung 01/24
Schlummern unterm Schnee
Alex Morss’ und Sean Taylors „Winterschlaf – Vom Überwintern der Tiere“ – Vorlesung 01/24
Held:innen ohne Superkraft
Comics gegen Diktatur und Ungerechtigkeit – ComicKultur 01/24
Am Küchentisch
„Kleiner Vogel Glück“ von Martin Mandler – Textwelten 01/24