Über 70 Jahre währt nun Frieden in Europa. Zumindest in weiten Teilen. 70 Jahre, in denen keine junge Generation mehr in Blitzkriegen und Kesselschlachten, Sommeroffensiven und Endkämpfen, in Bombennächten und Hungerwintern geopfert wurde. Und warum? Weil die Vision der Gründergeneration, Europa durch wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zu befrieden, ein voller Erfolg war. Sie lesen richtig: war.
Desorientierte Eliten haben seit Jahren nicht mehr ernsthaft überlegt, worauf das Projekt Europa hinauslaufen soll. Angebote und Visionen? Fehlanzeige! Stattdessen bestimmen seit Jahren multiple Krisen die europäische Agenda ohne Lösung in Sicht. Dabei wäre die Lösung so einfach: Eine demokratische, republikanische und soziale Vision müsste her. Stattdessen haben wir den Demokratiemangel akzeptiert und für normal befunden. Dadurch wurde die Leerstelle im vereinten Europa immer größer und wird mittlerweile von Populisten und Europafeinden besetzt und erweitert.
Längst hat sich der Populismus verfestigt. Längst sind zu viele Länder mit Blick auf die EU in innerer Kündigung. „Die Liebe zu Europa“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, „ist breiten Schichten der Bevölkerung abhanden gekommen, trotz #PulseofEurope.“ Und diese Entwicklung verfestigt sich. Ihr wird nicht im Handumdrehen beizukommen sein. Professionell lassen Online-Troll-Truppen im Vorfeld der Europawahlen wenig Gutes an der EU. Dass diese antidemokratische Saat aber seit Jahren aufgehen kann, ist Resultat des Quietismus der europäischen politischen Elite gegenüber anti-demokratischen Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten. Wo Zeitungen, wie in Ungarn, verboten oder Presse und Justiz, wie in Polen, eingeengt und gegängelt werden, wo, wie in Österreich, auf Pressekonferenzen kritische Nachfragen von Journalisten nicht mehr gestellt werden können oder einfach nicht beantwortet werden, sind Meinungsbildung und bürgerliche Freiheit eingeschränkt, ist die Demokratie schon eine gelenkte.
Machen wir uns nichts vor: die EU in ihrer jetzigen Form ist eine Karikatur ihrer Idee. Wir haben es zugelassen. Wir dürfen uns zwar europäische Bürger nennen, haben aber nicht die gleichen Rechte. Der Begriff des Bürgers wird so ad absurdum geführt. Bürger besagt, dass alle gleiche Rechte haben. In Wahrheit zahlen wir aber, je nachdem, wo wir zufällig das Licht der Welt erblickten, verschieden hohe Steuern, haben verschieden guten Zugang zu Bildungssystemen, haben verschieden gut entwickelte Sozialsysteme und so weiter. Wenn wir wirklich eine „European Citizenship“ haben wollen, dann müssen wir die Europäische Republik endlich anstreben. Denn nichts bedeutet Republik, als die Souveränität der Bürger und die Gleichheit vor dem Recht. Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund des objektiven Sachverhalts, dass alle Probleme und Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, längst transnational sind: von den Finanzströmen und der Wertschöpfungskette über ökologische Probleme bis hin zu Sicherheitsfragen. Es gibt nichts mehr, was eine (europäische) Nation für sich selbst regeln oder an den nationalen Grenzen abhalten kann. Deswegen brauchen wir totale Gemeinschaftspolitik, damit die Saat für nächsten totalen Krieg nicht aufgeht.
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