Wie erkundet man die Grenzen des Körpers? Eine Frage, auf die man Antworten von Bergsteigern und Tiefseetauchern erwartet. Ursula Nill, die zu den interessantesten neuen Gesichtern der NRW-Tanzszene zählt, gibt ganz andere, unerwartete Antworten in ihrer Choreographie „Where I end“, die sie jetzt auf der Bühne der Kulturen zeigte.
Vier Körper präsentieren sich dem Scheinwerferlicht, zwei weibliche (Romy Schwarzer und Ursula Nill) und zwei männliche (Tim Servos und Armin Biermann). Für Momente wirken sie wie ein Quartett, dann wieder wie vier Einzelwesen. Die Kontur einzelner Persönlichkeiten stellt sich nicht her, dem Blick bietet sich alleine die Gruppe dar. Ein Organismus aus vier Körpern, die manchmal wie einer atmen.
Mit Kurt Fuhrmann gibt es einen Schlagzeuger, der Geräusche produziert, die nicht laut auftrumpfen, aber immer am Werk sind, schleifend oder klopfend, und die wie ein Treibriemen zu funktionieren scheinen, der die Kraft für das Wesen mit den vier Rücken produziert. Wie die Bewegungen eines Tieres, das man bei seiner Fortbewegung beobachtet, ohne dass man sagen könnte, wie sie funktioniert, so rätselhaft agieren auch die Tänzer als Gruppe. Nach den Grenzen wird getastet, das Quartett scheint sich auszudehnen und für einen Moment wird sichtbar, wie man mit der Entdeckung der Außengrenzen auch ein Stück Gewissheit über das Innere eines Körpers gewinnt.
Tänzerisch ist die Choreographie nicht auf spektakuläre Momente angelegt, und sie verklingt auch fast unbemerkt. Die Faszination stellt sich über der Konsequenz einer ästhetischen Konzeption her, die Bewegung als eine gesichtslose Energie ins Spiel bringt, die aber gleichwohl Wirkung auslöst. Denn etwas verbindet die vier, die wir laufen sehen, die sich drehen und kräftige Geräusche auf dem Boden auslösen. Sinnlichkeit ist vorhanden, ohne dass deshalb eine Geschichte existieren müsste. Hier wird nicht wie so oft in aktuellen Tanzproduktionen auf das Wort zurückgegriffen oder die Brücke zum Schauspiel geschlagen. Ursula Nill und ihre erfahrenen Kollegen vertrauen ganz auf die Kraft der Bewegung, des Zusammenhalts und der Beziehung die man untereinander knüpft, ohne dass daraus eine psychologisch ablesbare Figur entstünde. „Where I end“ stellt sich als ein Experiment dar, das reif entwickelt und so klar in seiner Präsentation ist, dass man bis zum letzten Moment gefesselt bleibt von der Sogkraft der Tanzfolgen.
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