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Felix Ahls
Foto: privat

„Das System wackelt“

29. April 2020

Mediziner Felix Ahls über Krankenhausfinanzierung – Teil 1: Interview

choices: Herr Ahls, der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) versteht sich als Alternative zu standespolitischen Ärzteverbänden. Warum bedarf es einer solchen Alternative?

Felix Ahls: Insgesamt kann man sagen, dass der VDÄÄ die Fokussierung auf die Standespolitik ablehnt, also auf eine explizit ärztliche Interessenspolitik. Vielmehr hat er einen weiteren Blick auf die gesamte Gesellschaft und strebt ein solidarischeres politisches Vorgehen mit anderen Berufsgruppen an.

Ihr Verband wendet sich unter anderem gegen das aktuelle System der Krankenhausfinanzierung. Wie ist dieses System aufgebaut?

Ich würde es so beschreiben: Ein/e Patient:in kommt ins Krankenhaus, es wird etwas diagnostiziert und vielleicht auch etwas gemacht, also eine Therapie durchgeführt. Daraus setzt sich ein Pauschalbetrag zusammen, den das Krankenhaus für diesen Fall bekommt. Das ist die Fallpauschale, auf Englisch „Diagnosis Related Group“ (DRG), diese beiden Begriffe werden synonym verwendet. Das Krankenhaus muss mit diesem Betrag auskommen. Jetzt fallen Kosten an, vor allem Lohnkosten. Die machen etwa 60 bis 70 Prozent aus. Die müssen durch diese Fallpauschalen abgegolten werden, die von den Krankenkassen überwiesen werden. Wenn das Krankenhaus mehr Kosten hat, dann macht es Verlust. Wenn es schafft, die Kosten so zu senken, dass die Ausgaben unter diesen Pauschalen bleiben, macht es Gewinn. Das gilt für alle Krankenhäuser, sowohl für Krankenhäuser in privater Hand, als auch für kommunale und kirchliche Krankenhäuser. Der Unterschied besteht darin, dass private Krankenhäuser auch Rendite erwirtschaften wollen. Ein Vergleich, den wir gern ziehen, und bei dem unsere Kritik bereits anfängt, ist der mit der Feuerwehr, die als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge ebenso allen Menschen zusteht: Würde die Finanzierung dort genauso laufen, würde sie nur für tatsächliche Brände Geld bekommen, und zwar eine Pauschale, die nicht berücksichtigt, welche Kosten tatsächlich angefallen sind. Und damit müsste dann jede einzelne Feuerwehr in Konkurrenz zu den anderen noch Gewinn erwirtschaften um finanziell zu überleben oder im Falle einer privatisierten Feuerwehr sogar Profit abwerfen. Dazu kommt, dass Investitionskosten, wenn ein Krankenhaus etwa neue Gebäude baut, oder größere Anschaffungen macht, von den jeweiligen Bundesländern aus Steuern finanziert werden. Das ist ein Teil des Problems, weil die Länder seit Jahren versuchen, das zu reduzieren und der Prozentsatz an den Gesamtausgaben, den die Länder da wirklich auszahlen, immer weiter sinkt, so dass auch solche Investitionen aus den Fallpauschalen finanziert werden. Das ist kein Geheimnis. Aber eigentlich ist es nicht vorgesehen.

Krankenhäuser wirtschaften also mit öffentlichen Geldern, sind aber dazu angehalten, Profit zu machen.

Genau, denn die Fallpauschalen werden ja aus Krankenkassenbeiträgen finanziert, die ich auch mal als Geld der Öffentlichkeit, beziehungsweise der Allgemeinheit definieren möchte, weil diese ja von allen getragen werden. Diese Gelder werden genutzt um privaten Profit abzuführen und werden so dem Solidarsystem entzogen. Und die Investitionskosten, die die Länder aus Steuermitteln bezahlen, werden sowohl an öffentliche, als auch private Krankenhäuser ausgezahlt.

Worin liegen weitere Fehlentwicklungen?

Es gibt viele Aspekte, die miteinander zusammenhängen: Ein Grundfehler liegt in der Privatisierung, da dadurch der Allgemeinheit Geld entzogen wird, um privaten Profit zu generieren. Das wurde durch das Fallpauschalensystem noch weiter angetrieben. Mit der Einführung dieses Systems 2003 bzw. 2004 wurde eine Marktlogik in die Krankenhäuser gebracht, die dazu führt, dass unter den Krankenhäusern Konkurrenz statt Kooperation herrscht. In Ansätzen findet da zwar noch eine Planung statt, aber unter anderem dadurch, dass private Unternehmen beteiligt sind, hat der Staat die Planungshoheit zu weiten Teilen aus den Händen gegeben. Das sieht man daran, dass jetzt, in der Corona-Krise, die Rufe nach einem planerischen Eingreifen des Staates wieder lauter werden. Ein weiteres Grundproblem ist, dass Personal ebenso wie Zeit vor allem als Kostenfaktoren gelten: Es soll möglichst viel mit möglichst wenig Personal und möglichst wenig Lohn in möglichst kurzer Zeit gemacht werden, wie in jedem industriellen Unternehmen auch. Ich finde das widersinnig, denn meiner Meinung nach ist es für Ärzt:in oder Pfleger:in besser, sich mehr Zeit mit einer/einem Patient:in zu lassen und Entscheidungen zu überdenken oder auch mal abzuwarten. In unserem System gilt dies aber als etwas Negatives. Ebenso wie Vorhaltekosten, also leere Betten oder ungenutzte Maschinen. Auch das kommt in der aktuellen Krise wieder zum Tragen, denn jetzt spitzt sich das zu, was schon vorher ein krisenhafter Zustand war. Der Pflegenotstand ist ja vor allem durch die Streiks der letzten Jahre bekannter geworden. Nicht zuletzt hat der Einzug ökonomischer Logik in das Krankenhauswesen auch zu einer Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Ärzt:innen und Patient:innen geführt: Von Patient:innen hört man immer öfter die Frage: „Machen sie das, weil es notwendig ist, oder weil es Geld bringt?“. Die Frage ist nicht unberechtigt, denn das System drängt dazu, Dinge zu tun, die medizinisch nicht notwendig, aber lukrativ sind.

Welche Rolle spielen die Krankenkassen und ihr Medizinischer Dienst in diesem System?

Die Krankenkassen sind ja eigentlich eine Institution des Solidarsystems. Sie sammeln also das Geld der Versicherten, um jeden Einzelnen nach seinem Bedarf zu versorgen. Das ist der Kern des solidarischen Gedankens und das Grundprinzip der Krankenkassen. Aber auch die wurden in den letzten Jahrzehnten unternehmensförmig umstrukturiert: Sie stehen in Konkurrenz zueinander, können pleitegehen und treten als Verfechter einer marktwirtschaftlichen Steuerung auf, fordern sogar eine weitere Verschärfung. Und natürlich sind sie daran interessiert, möglichst wenige Ausgaben zu haben. In einem ökonomisierten System wird das zu ihrem Hauptinteresse.

Laut Bundesrechnungshof war 2019 jede zweite Krankenhausabrechnung zu hoch. Eine Folge des Profitdenkens?

Darin zeigt sich ein weiteres Grundproblem, nämlich, dass Krankenhäuser und Krankenkassen als gegensätzliche Pole auftreten: Die einen verursachen mit der Versorgung und der Behandlung die Kosten, die anderen sind die, die es bezahlen. Aufgrund der marktförmigen Konkurrenz, der beide unterliegen, versuchen beide ihre Position zu stärken. Das heißt für die Krankenkassen, möglichst wenig Geld auszugeben. Darum gibt es den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, der die Ausgaben der Krankenhäuser prüft. Diese eigentlich sinnvolle Aufgabe nutzen die Krankenkassen jedoch, um die Krankenhäuser unter Druck zu setzen. Ich bin selbst nicht sehr vertraut mit der Reform des Medizinischen Dienstes, die seit Beginn des Jahres gilt, aber von den Kolleg:innen in den Krankenhäusern habe ich gehört, dass dort die Angst umgeht, dass die Daumenschrauben jetzt noch fester angezogen werden – dass dem Medizinischen Dienst noch mehr Druckmittel in die Hand gegeben wurden, um die Krankenhäuser zu zwingen, noch weniger abzurechnen. So lange dieses System so besteht, sind beide Seiten eigentlich gezwungen, so zu agieren.

Ursprünglich sollte die Reform für mehr Transparenz bei der Finanzierung sorgen.

Transparenz ist auch ein Thema. Das Fallpauschalensystem wurde auch mit dem Argument von mehr Transparenz eingeführt. Eigentlich ist das System aber intransparenter geworden, da man nicht weiß, ob eine Diagnose gestellt wurde, weil sie wirklich vorliegt, oder weil sie lukrativ ist. In der Medizin ist eben vieles nicht nur das eine oder das andere. Befunde sind oft nicht eindeutig zu diagnostizieren, müssen aber benannt werden, oder aber sie entwickeln sich fort zu etwas anderem. Transparent wäre es, die Kostenaufstellung der Krankenhäuser zu betrachten und das zu bezahlen, was an medizinisch notwendigen Kosten aufgetreten ist. Die Kategorisierung durch die Fallpauschalen, die sehr komplex ist, wird in anderen Ländern nicht zur Finanzierung verwendet, sondern um zu überprüfen, welche Leistungen in Krankenhäusern erbracht wurden. Da ist Deutschland sehr weit oben auf der Marktwirtschafts-Skala.

Stattdessen favorisieren Sie die Selbstkostendeckung, die von den 70ern bis in die 90er das gängige System der Finanzierung war. Also: „Früher war alles besser“?

Das ist tatsächlich ein Vorwurf, dem wir uns oft ausgesetzt sehen: Wenn wir sagen, die Fallpauschalen müssen abgeschafft werden, was soll es denn sonst sein? Die Selbstkostendeckung habe ja schließlich auch nicht funktioniert. Ich denke allerdings, dass einige Argumente, die damals angeführt wurden, um das System abzuschaffen, unbegründet waren, zum Beispiel die Länge des Krankenhausaufenthaltes. Man könnte meinen, dass in dem Prinzip, dass ein Krankenhaus pro Tag und Patient Geld bekommt, ein Anreiz steckt, die Leute möglichst lange im Krankenhaus zu lassen. Aber tatsächlich ist die Verweildauer auch unter dem Selbstkostendeckungsprinzip immer kürzer geworden. Diese Tagespauschale war eigentlich nur ein Instrument, den Krankenhäusern ihr Budget, das ihnen für ein Jahr zur Verfügung steht, gestückelt zu geben.

Was schlägt Ihr Verband vor?

Unsere Alternative läuft, vereinfacht gesprochen, darauf hinaus, dass man schaut, dass die Kosten, die angefallen sind, bezahlt werden. Es soll kein Druck herrschen, allein wegen des ökonomischen Aspekts Leistungen abzubauen und Kapazitäten herunterzuschrauben oder Dinge zu machen, weil sie Geld bringen. Die Krankenhäuser sollen das bekommen, was sie brauchen, nicht mehr und nicht weniger, ohne den Zwang, Gewinn machen zu müssen. Die Ausgaben muss man natürlich auf ihre medizinische Notwendigkeit prüfen, und zwar Jahr für Jahr: Wie viel war es im letzten Jahr, so und so viel wird es im nächsten Jahr sein. Und damit die Krankenhäuser das Geld über das Jahr zur Verfügung haben, überweist man es eben nicht am Ende oder Anfang des Jahres, sondern teilt es auf: pro Patient und Tag. Was uns vorschwebt, ist zudem eine demokratisierte Planung, von den einzelnen Beschäftigten und regionalen Krankenhäusern, bis hin zu den überregionalen Gremien. So kämen die Perspektiven der Beschäftigten und der Patient:innen hinein, aber natürlich auch überregionale Belange. Die Strukturen könnten sich daran orientieren, was der – anhand medizinischer Wissenschaft empirisch festgestellte – Versorgungsbedarf einer Region ist, sodass die Strukturen dem Bedarf folgen und nicht dem Geld, so wie es zurzeit ist. Kinderkliniken und Geburtshilfe etwa sind Dinge, die im Fallpauschalensystem nicht profitabel sind. Das ist ein Grund für Krankenhäuser, diese Leistungen nicht mehr anzubieten. Das ist nicht empirisch begründet, sondern finanziell. Und das darf so nicht weitergehen.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Finanzierung der Krankenhäuser aus?

Das ist natürlich in einem rasanten Wandel. Und was man jetzt hört, ist in zwei Wochen schon nicht mehr aktuell – aber klar ist, dass die Krise alles zuspitzt, was vorher schon im Argen lag. Das heißt, vor allem der Personalmangel in der Pflege und die ökonomische Umformung der Krankenhäuser erscheinen jetzt als ganz offensichtliche Probleme. Ein Grund für die Einführung des Fallpauschalensystems war ja, dass man die Vorhaltekosten und Krankenhauskapazitäten reduzieren wollte, da sie als Kostenfaktor gesehen wurden. Das sollte durch weniger Betten erreicht werden – und durch weniger Behandlungen und weniger Ausgaben. Im Moment klingt es geradezu absurd, Krankenhäuser zu schließen, aber genau das ist in den letzten Jahren angestrebt worden: Unter dem Label von Qualitätssicherung und besserer Versorgung sollten Krankenhäuser konzentriert werden. Dahinter steckt eigentlich die Reduktion der Kapazitäten, also Betten-Abbau. Es ist absurd, wie sich die Situation jetzt innerhalb weniger Wochen komplett gedreht hat: Jetzt sagt das Gesundheitsministerium, wie gut, dass wir so viele Betten haben, wie schön, dass wir so gut da stehen – dabei galt genau das vorher als das Problem. Jetzt wird das Paradigma, das bis dato galt – also, dass sich Krankenhäuser selbst über Wasser halten sollen, mit den Mitteln, die ihnen durch die Fallpauschalen zur Verfügung stehen, – in Frage gestellt. Und jetzt soll das finanziert werden, was notwendig ist. Natürlich ist es sinnvoll, das zu tun. Aber das war es vorher auch schon.

Ist ein solches Epidemie-Ereignis bei der Finanzierungsfrage zuvor je mitgedacht worden?

Man muss wohl sagen: nein. Pandemiepläne gibt es, aber im öffentlichen Gesundheitsdienst sind tausende Stellen abgebaut worden. Die Investitionsausgaben der Länder wurden zurückgefahren. Das alles entspricht der Ideologie, dass man die Daseinsvorsorge möglichst zurück fahren sollte, weil die Marktwirtschaft das alles viel besser leisten könnte. Jetzt kippt das auf einmal um, der Markt kann es nicht mehr richten und der Staat tritt mit Notverordnungen auf. Der Markt hat versagt und es wäre schön, wenn diese Erkenntnis auch nach der Krise nicht vergessen wird.

Halten Sie die Krise für geeignet, dem Solidargedanken wieder mehr Wertschätzung einzuräumen?

Die Hoffnung ist da, dass das bleibt und vor allen Dingen weiter vorangetrieben wird. Die Aktion des abendlichen Klatschens, mit der man den Respekt hörbar macht, den man den Leuten zollt, die das Ganze aufrecht erhalten und dass man diese Berufe nun als systemrelevant einstuft, was vorher etwa nur für Banken galt: Das sind gute Anfänge und die Idee einer besseren Bezahlung ist eine gute Forderung. Aber wir beobachten auch, dass das Ministerium versucht, das Fallpauschalensystem über die Krise zu retten. Wir hatten gehofft, dass es weitreichendere Einschränkungen dieses Systems gibt. Das System wackelt und die Krise wird dies noch verstärken, weil sie die Widersprüche zwischen der Logik des Marktsystems und der Logik der Daseinsvorsorge, des Solidarsystems, aufzeigt. Die sind nicht miteinander vereinbar, deswegen helfen da auch keine vorübergehenden Rettungsschirme, wenn man es danach einfach wieder so weiterlaufen lässt. Da haben wir die Hoffnung, dass es einen Schub an Verständnis für die grundlegende Problematik gibt.


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Interview: Christopher Dröge

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