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„Amerika“
Foto: VKKBA

Cowboy, Nixe und Showgirl

27. September 2012

„Amerika“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/12

Die große Katastrophe ist schon eingetreten. Eisenträger ragen quer in die Bühne, von der Decke hängen Tapetenfetzen herab, eine Jahrmarktsgondel lehnt zerborsten an der Wand. Auf der Bühne und im Zuschauerraum dämmern vier Gestalten vor sich hin: Ein weißer Cowboy, eine Nixe, ein Showgirl und ein Prekariatsartist mit Trainingshose und zerschlissenem Bolero. Opfer des Showbiz’ – oder dessen Restbestände?
Langsam wacht das Quartett auf und buchstabiert sich in die ersten Sätze des Romans „Der Verschollene“, besser bekannt unter dem Titel „Amerika“ hinein. Franz Kafkas nachgelassenes Fragment, das die Reise des 16jährigen Karl Rossmann ins gelobte Land beschreibt und ihn nicht nur an seinem eigenen Gerechtigkeitsbedürfnis, sondern auch an den durchrationalisierten kapitalistischen Arbeitsverhältnissen und ihren undurchschaubaren Abhängigkeiten scheitern lässt. Ob er auf dem Schiff den Heizer gegen Vorwürfe verteidigt, sich seinem reichen Onkel Jakob andient oder als Liftboy in einem Hotel arbeitet – Karl verliert nie seinen Optimismus, kann aber im Land des individuellen „pursuit of happiness“ nicht landen. In Pia Maria Gehles Inszenierung gibt es kein Individuum mehr, alle vier Darsteller sprechen mal die Sätze Karl Rossmanns, mal die seines Onkels, manche Passagen werden im Duo oder im Chor intoniert – hier ist jeder austauschbar.
Oder ist der Abend als Erinnerung gemeint, die in einem Karl Rossmann-Kollektiv manifest wird wie das Programmheft suggeriert? Wofür dann die einzelnen Imagines wie das Mythenbild des Cowboys oder die Nixe und das Showgirl stehen, löst sich nicht auf. Oder ist der Abend vom fragmentarisch gebliebenen Ende, vom Naturtheater von Oklahoma, her gedacht, wo Karl hoffnungsvoll endlich eine Heimat findet – die sich allerdings aus heutiger Sicht nur noch als zersprengte Reste einer Kulturindustrie darstellen lässt? Zu vieles an diesem Abend bleibt vage. Die zahlreichen ranschmeißerischen Publikumsanimationen machen es auch nicht besser. Selbst die kurze Szene von Karls Kündigung im Hotel, die die Rollen der Therese, der Oberköchin, des Oberkellner und Karls klar aufteilt, bleibt nur Spielmaterial. Schade.

„Amerika“ nach dem Roman von Frank Kafka | R: Pia-Maria Gehle | Theater der Keller | 5./6.10. 20 Uhr, 7.10. 18 Uhr | www.theater-der-keller.de

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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