Fluchtpunkt: Begegnung von Geraden unterschiedlichster Ursprünge im sich verengenden Raum. Die neue „Fluchtpunkt“-Reihe des Literaturhauses Köln, die Migration, Heimat und Identität zum Thema nimmt, trägt einen vieldeutigen Titel. Wie jener Raum der ungleichen Begegnungen begangen und gestaltet werden kann, inwiefern er von einer idealisierten Perspektive abweicht, darüber sprachen am Donnerstagabend zwei Gäste: Ann-Kathrin Eckardt, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, Autorin des im März erschienenen Buches „Flucht und Segen“ (Pantheon Verlag), und Michael Richter, Filmemacher, dessen vielbeachtete ARD-Reportage „Entscheider unter Druck“ im Sommer vergangenen Jahres eine mediale Debatte über die deutsche Abschiebungspolitik auslöste und der das Buch „Neue Heimat Deutschland. Zuwanderung als Erfolgsgeschichte“ (edition Körber-Stiftung) geschrieben hat.
In dem eineinhalbstündigen Gespräch, das durch lesende Abschnitte aus Eckardts „Flucht und Segen“ sowie Szenen aus Richters Reportage ergänzt wird, berichten beide Journalisten authentisch, spürbar anteilnehmend und doch reflektiert über ihr Engagement: Mit anfänglicher Befremdung, schließlich wachsender, freundschaftlicher Zuneigung betreut Eckardt seit nunmehr drei Jahren zwei jesidische Flüchtlingsfamilien. Aus einem naiven Übereifer der Autorin erwächst mit gelegentlichen Ernüchterungen bald eine differenzierte, doch nicht weniger hoffnungsvolle Haltung, die als Bilanz ihres Buches steht. Richter hingegen betrachtet vielmehr das kollektive Schicksal. Seine investigative Arbeit zeigt politische Missstände auf, scheut jedoch auch nicht das Lob gelungener integrativer Ansätze. So sei in vergangenen Jahren migrationspolitisch vielfach „populistisch herumgeschraubt“ worden, eine neuerliche Tendenz zur sinnvollen „Reflektion und Nachsteuerung“ in Fragen der Arbeitserlaubnis konstatiere er dennoch.
Unter Befragung der Moderatorin Dorothea Marcus arbeiten sich beide Gäste am Spektrum nahezu sämtlicher Diskurse der Integrationspolitik ab, ohne jedoch – so ehrenwert dies in wachsender Polemisierung einer Debatte sein mag – tatsächlich in eine Kontroverse zu geraten. Werden etwa Themen wie fehlender Wohnraum, Verteidigung demokratischer Werte oder Bildungsgefälle unter den Geflüchteten durchaus informativ und aktuell beleuchtet, erntet dies im Publikum allemal affirmatives Nicken: Viele der Anwesenden Gäste sind selbst Ehrenamtliche; als das Stichwort Gleichberechtigung der Geschlechter in Flüchtlingsfamilien fällt, wird vielsagend aufgeseufzt.
Auf der Schwelle zwischen aufklärendem Erlebnisbericht und politischem Vortrag folglich gilt es, die Veranstaltung als nützliches Forum, als gelungenen Austausch, einen harmonischen Auftakt der Reihe „Fluchtpunkt“, betrachtet aus der Helferperspektive, einzuordnen. Denn insbesondere dann, wenn an diesem Abend persönliche Einsichten aus dem Dialog mit Geflüchteten anstelle übergreifender politischer Aussagen treten, gewinnt das Gespräch an Erkenntniswert. Dass etwa ein „Ja“ nicht gleich „Ja“ bedeutet, wenn es vielmehr das Gesetz der arabischen Höflichkeit gebietet, dem Gastgeber nichts abzuschlagen, wie Eckardt schmunzelnd erzählt. Oder wenn, nach der beseufzten Darlegung der Gleichstellungsproblematik, aus dem Publikum der berechtigte Einwand hervorstößt, wir seien selbst „überhaupt nicht so viel weiter“, betrachte man die erst in den Siebzigern reformierte Erwerbstätigkeit der Frauen in Deutschland: die kritische Reflektion des Individuums, befangen zwischen Ethnozentrismus und Kulturrelativismus.
Eine Lehre scheint dabei unumstößlich: Die Notwendigkeit des Fremden für das Eigene. Diese erfahre Richter, wenn er, wie kürzlich, mit Abdulahi Mohamed, dem somalischen Protagonisten seiner Reportage, telefoniere, welcher derzeit, nach der Ermordung seiner Familie in der Heimat und jahrelangem Asylverfahren in Deutschland, nun wieder in einer Trierer Turnhalle nächtigt. All das habe „eigene Befindlichkeiten relativiert“, gesteht Richter.
Letztlich schließt der Abend mit einem zuversichtlichen Verweis auf Einwanderung als Generationenprojekt. Und, in aller Zuspitzung der Perspektive, gibt es auch einen metaphorischen Trost: Der Fluchtpunkt weist in eine harmonisch konstruierte Suggestiv-Ferne, deren Weggeraden bereits vorgezeichnet scheinen. Verließe man sich darauf, könnte, wer an diesem Abend besänftigt das Literaturhaus verlässt, beinah der Illusion erliegen, es gelte sich nicht mehr mit Mut für diese ferne Harmonie einzusetzen.
Wer der Veranstaltungsreihe „Fluchtpunkt“ des am Großen Griechenmarkt gelegenen Literaturhauses Köln ein größeres Potenzial zur kontroversen Debatte zumutet, dem sei deren Fortsetzung am 3. Mai ans Herz gelegt, die sich mit den Briefwechseln von 28 AutorInnen zum Thema europäischer Identität befasst.
Nächste Termine:
Mi 3.5. 19.30 Uhr | MfG: Georg Klein und Viktor Martinowitsch mit europäischen Korrespondenzen | Literaturhaus
Mi 31.5. 19.30 Uhr | Grenzen überdenken: Julian Nida-Rümelin | Altes Pfandhaus
Mi 13.6. 19.30 Uhr | Die Angst der Anderen: Dirk Gieselmann & Armin Smailovic | Literaturhaus
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