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„love you, dragonfly“
Foto:Thomas Morsch

„An welche Werte können wir glauben?“

29. September 2016

Alice Buddeberg inszeniert in Bonn Fritz Katers neues Stück „love you, dragonfly“ – Premiere 10/16

Regelmäßig macht Armin Petras, der Intendant des Stuttgarter Staatschauspiels, eine Identitätsverwandlung durch und wird zwischenzeitlich zum Autor Fritz Kater. Noch im Mai war beim diesjährigen „Stücke“-Wettbewerb in Mülheim sein Stück „Buch (5 ingredientes de la vida)“ zu sehen. Nun folgt am Theater Bonn die Uraufführung von „love you, dragonfly“, das das „Buch“-Konzept fortschreibt. Diesmal allerdings unter einem konzentrierenden Motto: Glauben. Darunter ist alles zu verstehen, was letztlich in einen Wertekanon passt – was aber unter dem Druck gesellschaftlicher und historischer Verhältnisse Veränderungen unterworfen ist und einer Rechtfertigung bedarf.

choices: Frau Buddeberg, was war der Anlass, an Fritz Kater einen Stückauftrag zu vergeben? Was schätzen Sie an seinen Stücken?
Alice Buddeberg: Das hat einerseits mit Themen wie der verlorenen Generation zu tun, die man in Fritz Katers Stücken immer wieder findet. In „love you, dragonfly“ wie in anderen neueren Stücken geht es aber auch darum, über das Erzählen von Geschichten eine politische Haltung zur Welt zu entwickeln. In der Spannung zwischen einem politischen Überbau und persönlichen Geschichten an historischen Scheidewegen liegt für mich die große Qualität der Texte von Fritz Kater.

Sechs Versuche zur Sprache des Glaubens“ lautet der Untertitel: Was zeichnet diese Sprachen des Glaubens aus?

Alice Buddeberg
Foto: Thomas Morsch

Zur Person

Alice Buddeberg (*1982) studierte Schauspielregie an der Theaterakademie Hamburg. Sie inszenierte u.a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Frankfurt sowie am Luzerner Theater. 2011 wurde sie für ihre prägnanten, poetischen Klassikerinszenierungen mit dem Kurt-Hübner-Preis ausgezeichnet. Seit der Spielzeit 2013/14 ist Buddeberg Hausregisseurin am Theater Bonn.

Das Stück geht von einer glaubenslosen Welt aus. Also einer Welt, von der man sagt, man hat den Glauben oder die Überzeugung – ob das die Kraft der Ideologie ist oder was auch immer – verloren. Das ist die Ausgangslage, von der aus diese Versuche die Frage stellen, an welche Werte wir überhaupt noch glauben können.

Um welche Formen des Glaubens geht es? 
Das Stück hängt sich an den sechs Begriffen Liebe, Gott, Familie, Leben, Freiheit und schließlich Fortschritt auf. Diese Begriffe, die zugleich als Übertitel der einzelnen Szenen dienen, werden an unterschiedlichen historischen Situationen festgemacht. Das Stück unternimmt damit eine Zeitreise, die zum Beispiel versucht, etwas über die Liebe in den 1930er Jahren in der Sowjetunion herauszufinden und damit nachforscht, an welchen Stellen es noch einen scheinbaren Konsens über diese Begriffe gab.

In der dritten Episode, die mit „Gott“ überschrieben ist, wird ein junges Mädchen von einem Mann missbraucht.  Was hat das mit Gott zu tun?
In allen Geschichten geht es darum, zu versuchen zu glauben. Das heißt nicht, dass das gelingt. Wenige dieser Versuche gelingen letztlich. Die Frage in der 3. Szene lautet: Wie kann ich mir Gott vorstellen? Das verwahrloste Mädchen versucht, sich seinen Vergewaltiger als Gott, als eine (all)mächtige Person vorzustellen. Und dadurch einen archaischen, einen biblischen Schrecken zu erleben, aus dem sie geläutert hervorgeht. Gottesglaube hat ja manchmal mit Katastrophen und Not zu tun.

Die einzelnen Teile spielen 1935/2014/1969/1985-89/2018/1942 – was zeichnet diese historischen Momente aus? Gibt es eine Gemeinsamkeit? 
Es ist nicht willkürlich, dass der Glaube an die Freiheit in der zerbrechenden DDR der 80er Jahren verhandelt wird. Während es in der Diktatur noch den entgrenzenden Moment und die Feier des Rebellierens gibt, ist nach 1989 nicht nur die Sehnsucht nach der Freiheit verschwunden. Man ist der Vielzahl der Möglichkeiten ausgeliefert und kann die Freiheit nicht mehr leben, also auch die Freiheit in der Beziehung. Es hat also einen Sinn, warum die einzelnen Begriffe mit einer bestimmten historischen Epoche verknüpft werden.

Warum wird ausgerechnet das Liebesthema in den 30er Jahren in der Sowjetunion verhandelt? 
Es gibt da die Frau, die den Mann über alle Grenzen hinweg liebt. Sie möchte kein Kind von ihm, nur um ihn besser lieben zu können. Neben dieser romantischen Liebe, gibt es die Liebe von Hermann zum Sozialismus. Und auch diese Liebe reicht über alle Widerstände hinweg. Selbst wenn er politisch verfolgt wird, verflucht er nicht das politische System, sondern verlangt sich selbst eine Veränderung ab. Das schraubt sich in einen Fanatismus, in eine Radikalität der Liebe hinein, die 1917 beispielweise schwieriger zu erzählen wäre.

Geht es auch um Kollisionen von Glaubensformen? 
Es gibt immer auch weitere Begriffe, die den jeweiligen Übertitel in Frage stellen. Könnte die Familie funktionieren, wenn der Vater den Adoptivsohn verstehen würde? Während der Sohn, der als früherer Flüchtling in dieser bürgerlichen Familie aufgewachsen ist, die Stadt Bremen als marode und völlig verrottet beschreibt. Diese unterschiedlichen persönlichen und historischen Perspektiven lassen die Figuren nicht zusammenkommen.

Täuscht der Eindruck oder haben alle Szenen einen völlig anderen Grundton?Obwohl sie alle einen epischen Grundton haben und letztlich auch darauf abzielen, eine kollektive Geschichte zu erzählen, haben die Szenen jeweils eine völlig andere Temperatur. Das hängt damit zusammen, wo jemand etwas erlebt hat, ob jemand nur behauptet, etwas erlebt zu haben oder ob jemand versucht, sich etwas vorzustellen. Daraus entwickelt jede Szene ein völlig eigenes Klima. Wir erzählen zwar alles aus einer Nullsituation in einem Wartesaal heraus, in dem sich die Figuren auf eine Zeitreise begeben, aber die Distanzen, das Gefühl und die Musik sind jeweils völlig unterschiedlich.

Macht das Stück auch eine Bilanz auf: Was damals noch ging, geht heute nicht mehr? Oder dass die Probleme vielleicht doch die gleichen geblieben sind?
Es ist durchaus die Frage, ob damals in der Sowjetunion die Liebe wirklich noch funktioniert hat oder nicht. Es hat viel mit Verlust zu tun. Dieser gesellschaftliche Glaube an eine bessere Welt, dem man seinen Beruf, ja sogar sein Leben widmet – das kenne ich nicht mehr. Darüber bin ich nicht nur unglücklich. Die letzte Szene ist dem Glauben an das Leben gewidmet, dessen Gültigkeit bis heute man sich relativ sicher sein kann. Das ist ein sehr kleiner gemeinsamer Nenner. Aber das, was bleibt, ist immer der Versuch, die Kraft zu diesem Glauben auch wirklich zu erlangen.

„love you, dragonfly [6 Versuche zur Sprache des Glaubens]“ | R: Alice Buddeberg |  7.10.(P), 9., 21., 27.10. 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0221 22 12 84 00

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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