Inwieweit lassen sich Lebensläufe in Portraitfotografien festhalten? Spiegeln sich dort über die altersbedingte Veränderung der Physiognomie hinaus die erlebte Zeit und das psychische Befinden wider? Und liefert die vergleichende Dokumentation, zumal wenn sie sich über Jahrzehnte erstreckt, Hinweise auf die jeweilige Gesellschaft, auf Moden und Verhaltensweisen? Diesen Fragen geht die derzeitige Ausstellung in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur nach. Ihr Thema der fotografischen Bannung von Alter und Lebenszeit ist heute mehr denn je aktuell. Die durchschnittliche Lebenszeit wächst stetig, damit werden die Erinnerung und deren Verlust wie auch die demographische Entwicklung der Bevölkerung weiter zu gesellschaftlich relevanten Themen. Die Fotografie – mit ihrem ganzen technischen und formalen Spektrum – erweist sich als geeignetes Medium für die Fixierung der Zeit: Sie verspricht Authentizität, ermöglicht die vergleichende Rückerinnerung und hält „unsichtbar“ schleichende Prozesse fest. Fotografie (sofern sie nicht digital bearbeitet wurde) dient der Bezeugung und als Beleg, aufgenommen im Gegenüber, als Bildnis.
Selbstportraits und Gruppenbildnisse
Aber was macht überhaupt ein gelungenes fotografisches Portrait aus? Stefanie Grebe, eine der in Köln beteiligten Künstlerinnen, schreibt dazu im Katalog: „Einem Portrait sollte eine Magie zu eigen sein, und gleichzeitig sollte es als Projektionsfläche funktionieren. Kommen bei der Betrachtung Gefühle, Erwartungen, Wünsche, Vorurteile und Erinnerungen in Fluss, bedeutet das ein Eintauchen ins Bild.“ Dabei steht die Portrait-Fotografie in einer Jahrhunderte alten kunsthistorischen Tradition. Sie schließt an die Malerei von Einzel- und Gruppenbildnissen an. Aber war die Portraitkunst in früheren Zeiten vor allem Auftragskunst, so arbeiten die heutigen Künstler zumeist aus eigenem Impuls heraus und verfolgen unterschiedliche Ansätze und Anliegen. Die Ausstellung in Köln nun, die gemeinsam mit der Landesgalerie Linz erarbeitet wurde, versammelt fünfzehn künstlerische Projekte von Künstlern unterschiedlicher Generation und Herkunft. Das Spektrum reicht von der „klassischen“ Fotografie, bei der sich aus ausdrucksstarken Einzelbildern aussagekräftige Abfolgen ergeben (Richard Avedon), über Langzeitstudien mit dem Selbstportrait (Helga Paris), mit einem einzelnen Modell (u.a. Rineke Dijkstra, Michael Mauracher) oder einer bestimmten Gruppe (u.a. Anna Jermolaewa) hin zu Zeitschnitten in der Gegenüberstellung von zwei chronologisch weit auseinanderliegenden Fotografien (Christian Borchert). Daneben steht der radikale Umgang mit dem eigenen Bildnis. So sind die Portraits, die Roman Opalka als Büste aufgenommen hat, tägliches Exerzitium zur Fortsetzung der konzeptuell ausgerichteten Malerei im Atelier, gewissermaßen deren Abschluss und Reflex, zumal die Fotografien – wie die Malerei selbst – im Laufe der Serie zunehmend heller auftreten: Sie „vergeistigen“ und entziehen sich uns sozusagen. Etwas ganz anderes sind die zwölf Selbstbildnisse, die Helga Paris in einem Zeitraum von neun Jahren angefertigt hat und in die ihre Erfahrungen als Reportagefotografin einfließen. Sie zeigen die Fotografin zupackend, präsent und doch entrückt: Fotografie wird zur psychischen Klärung und eigenen Vergegenwärtigung. Sie erweist sich darin als Ritual.
Vergangenheit und Gegenwart
Auch im Bereich konfrontativer Bildpaare werden unterschiedliche Ansätze vorgestellt. Roni Horn hat Portraitfotos von sich aufgespürt, die Freunde und Verwandte irgendwann vor kurzem oder in ihrer Kindheit angefertigt haben. Sie setzt diese nicht chronologisch, sondern rein nach formalen Überlegungen zu Paaren zusammen. Natürlich geht es um die Schnittmenge, um innere Wahrheiten und Wesenszüge, welche sich noch über die Aufnahmen unterschiedlicher Hobbyfotografen erschließen. Wilma Hurskainen hingegen reagiert mit dem zweiten, von ihr inszenierten Foto auf eine vorgefundene Bildvorlage. Zu sehen ist sie mit ihren drei Schwestern. Die Ausgangsfotos aus dem Familienalbum zeigen die vier Schwestern als Kinder z. B. auf Ausflügen, und diese Situationen sind nun am gleichen Ort, teils mit den gleichen Kleidungsstücken nachgestellt. Gewiss schwingt hier die Frage mit, wie vergangen die Zeit ist. Ob sich die Träume, welche die frühen Bilder ahnen lassen, inzwischen erfüllt haben. Ein Hauch von Romantik, aber auch Humor zeichnet diese kleinformatigen Tableaus der jungen finnischen Künstlerin aus.
In der Ausstellung hängen ihren Arbeiten die s/w-Fotografien zu den vier „Brown-Sisters“ von Nicholas Nixon gegenüber. Seine Serie wirkt ernst, fast melancholisch – das liegt daran, dass sie das Vergehen der Lebenszeit sehr direkt mit den Begriffen Zuneigung und Liebe verknüpft. Seit 1975 fotografiert Nixon seine Frau mit deren drei Schwestern, einmal im Jahr, meist draußen, und zwar immer in der gleichen Reihenfolge nebeneinander. Herkunft, Geburt und – irgendwie, je länger dieses Projekt andauert – auch Altern und Tod werden zu Momenten der eindrucksvollen künstlerischen Unternehmung. Sie ist die längste Bestandsaufnahme dieser Ausstellung, wohlgemerkt ist sie (wie die meisten der in Köln gezeigten Beiträge) noch nicht abgeschlossen. – Und was passiert, umgekehrt, in einer sehr kurzen Zeitspanne? In einer Stunde? Dazu zeigt die Ausstellung drei Video-Portraits von Thomas Struth, der eigentlich als Fotograf bekannt ist. Zu sehen ist jeweils eine Person, die sich eine Stunde still verhält und dabei den Blicken ausgeliefert ist. Wie lang eine Stunde sein kann, und wie viel ein Mensch allein dadurch mitteilt, dass er „da“ ist – auch das sind Erkenntnisse dieser sehr guten Ausstellung.
„AGES – Porträts vom Älterwerden“ I bis 28. Juli I Photographische Sammlung der SK Stiftung Kultur im Mediapark, Köln I www.photographie-sk-kultur.de
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