Am 12. März war ich zum letzten Mal im Theater. Die großen Stadttheater hatten schon zu. Nur die kleinen Häuser schlugen sich noch irgendwie durch. Wie lange noch, wusste keiner. Im Theater Tiefrot, unweit dem Ebertplatz, gaben sie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, einen amerikanischen Klassiker aus den 50ern, was so viel bedeutet wie: Gelangweilte Großstadtmenschen ertränken ihre seelischen Traumata mit viel Whisky und noch mehr fiesen Sprüchen.
Das Theater Tiefrot ist eines von vielen kleinen Häusern in Köln, die sich ohne Förderung und mit viel Idealismus über Wasser halten. Das erste Mal war ich hier im Spätsommer 2018. Von den kleinen Balkonen aus sang das Ensemble die Moritat von Mackie Messer in den Hinterhof hinein, wo die Zuschauer bei Weißwein die Dreigroschenoper verfolgten. Für den Hinterhof war es am 12. März noch zu kalt. Stattdessen wurde „Virginia Woolf“ auf der Kellerbühne gezeigt: Ein schmaler Raum, in der Mitte ein quadratisches Loch, das dem Publikum von zwei Seiten Einblick in das toxische Gemetzel der Protagonisten bot.
Nicht nur deswegen eine unheimliche Stimmung. Klar, Corona war auch schon ein Thema. Die lässige Beschwörungen von „Panikmache“ bis „Ist ja nur ne Grippe“ verloren allmählich ihre Wirkkraft. Mittlerweile hatten selbst seriöse Medien ihre Live-Ticker und interaktiven Karten hochgefahren. Im Minutentakt konnte man die exponentielle Steigung sehen. Die größte Gesundheitskrise seit hundert Jahren als simultanes Live-Erlebnis. Politische Konsequenzen lagen schon in der Luft. In den Supermärkten begannen die Hamsterkäufe. Langsam wurden Toilettenpapier und Nudeln knapp. Drei Tage später zog Claus Kleber seine Augenbraue so tief nach unten wie er konnte, um im eindringlichen Duktus noch an die lässigsten Corona-Skeptiker zu gemahnen: „Das ist eine Pandemie. Sie ist nicht mehr zu stoppen.“ Zwei Tage später wurden die Schulen geschlossen. Vielleicht konnte das Theater dafür sorgen, diesem ganzen Irrsinn wenigstens für zwei Stunden zu entkommen?
Die Vorstellung war nicht ausverkauft, die Reihen im Publikum aber gut gefüllt. Aufmunterndes, sich selbst vergewisserndes Zunicken und Zuprosten ringsherum. „Ach guck, ihr habt euch auch nochmal getraut. Wird schon wieder, ist vielleicht doch nicht so schlimm.“ Neben mir unterhielt sich ein älteres Paar intensiv über die neuesten Tickermeldungen, die der Herr vom Smartphone ablas. Selbst als das Licht schon gedämmt war, starrte der Mann noch in sein Handy. Nach einer Stunde verließ er das kleine Kellergewölbe und kam nicht wieder zurück.
Das Ensemble jedenfalls tat ihr Bestes für ein paar Momente Corona-Ablenkung. Mit beharrlichem Vertrauen in die immer wieder neue, immer wieder faszinierende Kraft, die entsteht, wenn Menschen auf einer Bühne zusammenkommen. Die alte Theaterphrase, die Schiller einst prägte („Sehn wir doch das Große aller Zeiten / Auf den Brettern, die die Welt bedeuten“) – hier wurde sie noch mit Leben gefüllt. Dreh- und Angelpunkt, nicht nur der Inszenierung, sondern des gesamten Theaters ist Intendant Volker Lippmann. Auf der Bühne war er als verkrachter Geschichtsprofessor George zu sehen, der seiner Martha mit feinstem Zynismus zusetzt. Darüber hinaus zeichnete er für die Regie verantwortlich. Als das Stück zu Ende war und sich die Schauspieler ihren wohlverdienten Applaus abholten, hinkte Lippmann immer etwas zurück. Er müsse sich nebenbei noch um die Beleuchtung kümmern, teilte er dem Publikum mit.
Über einen Monat später sind es nicht mehr die Bretter, die die Welt bedeuten. Für ein unabhängiges Theater wie das Tiefrot sind die Schließungen existenzbedrohend. Viele Künstler und Schriftsteller, Museen und Clubs tummeln sich jetzt im Internet. Versuchen dort ihre Kunst unter die Leute zu bringen. Das funktioniert teilweise erstaunlich gut. Auch Theater versuchen sich daran. Es gibt Podcasts, kleine Schauspieleinlagen bei Facebook und Instagram und teilweise ganze Inszenierungen bei vimeo. Aber kaum eine Kunstform ist so stark auf die physische Präsenz der Beteiligten angewiesen, auf die intime und immer neue Verbindung, die entsteht, wenn Publikum und Schauspieler für zwei Stunden an einem Ort zusammenkommen.
Die Internet-Streams bleiben – so unterstützenswert und kreativ sie auch sein mögen – nur ein schwacher Trost. Und vergrößern die Sehnsucht nach coronafreien Zeiten. Damit aber nach dem Lockdown Abende wie diese überhaupt noch möglich sein werden, sind gerade die kleinen Theater jetzt auf die Unterstützung ihrer Zuschauer angewiesen. Wer es sich leisten kann, sollte sich die Karten für ausgefallene Veranstaltungen nicht zurückerstatten lassen. Oder direkt Geld an die Häuser spenden. Kleine, aber wichtige Maßnahmen, damit nach der Krise der alte Schiller wieder zu seinem Recht kommt und Bretter wieder die Welt bedeuten.
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