Wofür brauchen wir noch die Handschrift, wir schreiben doch sowieso auf dem Computer? Eine weitverbreitete Ansicht, die man offenbar auch in Hamburgs Schulbehörde teilt. Als erstes Bundesland gibt Hamburg die verpflichtende Handschrift auf, dort können die Erstklässler in Zukunft auch in Druckbuchstaben schreiben. Die Erfahrung zeigt, wo die Freigabe einmal erfolgt ist, wird das bestehende System bald verschwinden, schon alleine, weil die Lehrer keine Rückendeckung bei ihrer Arbeit mit dem alten System von Seiten der Schulbehörde zu erwarten haben. Die Einführung der Druckschrift vereinfache vielen Kindern das Schreiben, meint man in Hamburg. Eine Ansicht, die auch schon bei der Einführung der Rechtschreibreform ins Feld geführt wurde. Offenbar soll sich das gesamte System vor den I-Dötzchen verneigen, die ja eigentlich in die Schule gekommen sind, um etwas zu lernen. Wer einmal beobachtet hat, wie stolz Kinder darauf sind, ihre eigene Handschrift zu zeigen, wundert sich darüber, dass ihnen dieses erste Erlebnis von Erfolg und Identität genommen werden soll.
Nun könnte man einwenden, dass der Untergang des Abendlandes nicht bevorsteht, wenn ein paar Sechsjährigen keine Handschrift mehr beigebracht wird. Andererseits darf man sich fragen, ob sich das Abendland nicht gerade über seine Kultur definiert. Handschrift ist ein Stück Identität, das wissen nicht nur die Graphologen. Was wir auf dem Papier sehen, ist geronnene innere Bewegung, die einen Blick auf Denken und Fühlen bietet. Dass die Buchstaben miteinander verbunden werden, entspricht nicht bloß einem Bedürfnis nach Dekoration. Spätestens seit der Veröffentlichung von Stanislas Dehaenes bahnbrechender Untersuchung „Lesen“ (Textwelten 11/2010) wissen wir, dass vom Auge jeder einzelne Buchstabe aufgenommen und im Gehirn zu einem Wort zusammengesetzt wird.
Indem sich die Buchstaben zu einem Wort fügen, entsteht Sinn. Ein geistiger Prozess, dem wir im Schreiben manuell Ausdruck verleihen. Das Schreiben bildet die Bewegung des Denkens ab. Die eilige Forderung nach Effizienz ist hier fehl am Platz. Lernen braucht Zeit, hat man die, entwickelt sich Kreativität und das Neue kann geboren werden. Schreibt man in Druckschrift, muss die Hand immer wieder absetzen, der Fluss der Bewegung geht verloren, das verkrampft die Hände und man wagt sich gar nicht vorzustellen, wie jemand in der Lage sein soll, seitenweise auf diese Weise mit der Hand zu schreiben. Der Wechsel auf die Tastatur des PCs ist nur logisch.
Das Schreiben stellt jedoch das Paradebeispiel für eine Kulturtechnik dar, die sich in den Körper einschreibt. So gehört die Handschrift zu den komplexesten Bewegungsabläufen des Menschen. Nicht nur die Motorik wird auf Trab gehalten auch im Gehirn geht während des Schreibens ein Feuerwerk im Spiel der Neuronen ab. Analphabeten haben tatsächlich andere Gehirnstrukturen und ziemliche Probleme mit Tätigkeiten, die feinmotorische Finesse verlangen. Hamburg steht mit seiner bequemen Entscheidung jedoch nicht alleine da, andere Bundesländer wollen nachziehen, auch NRW. Wieder einmal zeigt sich, wer vom Wert kultureller Errungenschaften nicht überzeugt ist, der schafft sie irgendwann einfach ab und da kann eine Schulbehörde sicher besonders effiziente Ergebnisse erzielen.
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