Welch schöne Blüten das Scheitern doch mitunter treibt. Ein Gastgeber, der in der Rolle des Inspizienten, seine Veranstaltung über den Zeitrahmen hinaus wuchern lässt und ein Moderator, der lieber selbst spricht, als seine Gäste zu befragen. Günter Blamberger und Péter Esterházy wurden ihrer Aufgabe dennoch gerecht. Das von Günter Blamberger mitgegründete Internationale Kolleg Morphomata der Universität zu Köln lädt in jedem Jahr einen „Literator“ ein, der im Sinne des von Goethe geprägten Begriffs, als Experte zwischen den Weltliteraturen vermitteln soll.
In diesem Jahr übernahm der ungarische Friedenspreisräger des Deutschen Buchhandels, Péter Esterházy, die Rolle des „Literators“ und lud sich mit Martin Mosebach, Ilma Rakusa und Jean-Philippe Toussaint drei seiner Lieblingsautoren zum Plausch ins Kölner Schauspiel. Die beiden Schweden Lars Gustafsson und Per Olov Enquist hatten aus Krankheitsgründen absagen müssen. Der Abend erhielt mit Heinrich von Kleists essayistischer Skizze „Über das allmählige Verfertigen der Gedanken beim Reden“, die von Anja Lais und Thomas Loibl wunderbar aufmerksam gelesen wurde, gleich seinen psychologischen Ausgangspunkt.
Esterházy bekräftigt Kleists Ansatz, auch beim Schreiben setzt für ihn „über dem Erinnern erst der Gegenstand des Erinnerns“ ein. Ilma Rakusa erklärt diese Erfahrung mit dem Hinweis, dass „der Vorgang des Schreibens die Gedanken aktiviert, so dass die Gefühle aufsteigen können, wie aus einer Büchse der Pandora“. Die Frage nach der Inspiration blieb ein Faden, den die Autoren immer wieder gerne aufnahmen. Für Martin Mosebach wurde der Gesang einer Nachtigall zum Auslöser für seinen Roman „Was davor geschah“. Dass dessen Prosa einem so bemessenen, dichten Rhythmus gehorcht, erklärt der 62-Jährige mit dem Hinweis auf seine ehemalige Profession als Jurist. Sich in andere Menschen hineinzuversetzen, präzise zu formulieren und die Gedanken zu ordnen, trainiert nicht alleine Juristen-Gehirne, sondern verhilft auch dem Autor zur Fähigkeit, eine so nahrhafte Prosa zu schreiben, wie sie Mosebach hier gelingt. Die Slowakin Ilma Rakusa ist in Triest aufgewachsen, das Geräusch der Wellen am Strand als akustischer Hintergrund für die Märchenerzählungen ihrer Mutter gab ihrem Schreiben seinen inneren Impuls.
Auf besondere Weise „verliebt“ zeigt sich Péter Esterházy in die Prosa Jean-Philippe Toussaints. Für den Belgier ist das Schreiben „ein visueller innerer Monolog, der den Stoff der Träume auffinden will“. Dieses vagabundierende Erzählen von subtil aufgeladenen erotischen Situationen zelebriert Toussaint besonders wirkungsvoll in seinem Roman „Die Wahrheit über Marie“, der in einer Atmosphäre fast unerträglicher Sommerhitze spielt. Toussaint möchte nur wenig im Wort benennen, damit die Gefühle zwischen den Zeilen von den Lesern noch entdeckt werden können. So brachte Péter Esterházy den Abend denn auch mit der Bemerkung auf den Punkt, dass die Frage nach Form und Inhalt in der Literatur im Grunde unsinnig sei. „Es gibt keinen Inhalt“, sagt er. So muss Toussaint, wenn er einen Regen beschreibt, das Wort nie verwenden. Nur die Leser müssen „spüren“, dass es regnet.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Von Kant bis in die Unterwelt
Zarte und harte Comicgeschichten – ComicKultur 05/24
Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24
Vom Arbeiterkind zum Autor
Martin Becker liest im Literaturhaus aus „Die Arbeiter“ – Lesung 04/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24
Gertrude, Celeste und all die anderen
Progressive Frauen in Comics – ComicKultur 02/24
Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24
Umgang mit Krebserkrankungen
„Wie ist das mit dem Krebs?“ von Sarah Herlofsen und Dagmar Geisler – Vorlesung 01/24
Schlummern unterm Schnee
Alex Morss’ und Sean Taylors „Winterschlaf – Vom Überwintern der Tiere“ – Vorlesung 01/24
Held:innen ohne Superkraft
Comics gegen Diktatur und Ungerechtigkeit – ComicKultur 01/24
Am Küchentisch
„Kleiner Vogel Glück“ von Martin Mandler – Textwelten 01/24
Tod und Venedig
Daniel Schreiber liest im MAKK aus „Die Zeit der Verluste“ – Lesung 12/23
Federknäuel im Tannenbaum
„Warum Weihnachtswunder manchmal ganz klein sind“ von Erhard Dietl – Vorlesung 12/23
Glühender Zorn
„Die leeren Schränke“ von Annie Ernaux – Textwelten 12/23
Reichtum und Vielfalt
„Stärker als Wut“ von Stefanie Lohaus – Klartext 12/23
Die Umweltschutzuhr tickt
„Der Wald ohne Bäume“ von Jeanne Lohff – Vorlesung 12/23
Ernste Töne
Neue Comics von Sfar, Yelin und Paillard – ComicKultur 12/23