In ihrem Album „Haus“ singt Katharina Kollmann alias Nichtseattle von „Leute[n] mit Kind / [...] Leute, die hier nur ausnahmsweise sind“. Die „geh‘n nach anderthalb Stunden nach Haus“ – einfache, klare Bilder für Flüchtigkeit in Beziehungen und Begegnungen. An anderen Stellen (auch des Albums) benennt sie mögliche Ursachen dieser Entfremdung: Marktgläubigkeit, Ökonomisierung von Alltag und Gefühlen, soziales Gefälle und eine Bequemlichkeit, die dazu verleitet, sich mit all dem zu arrangieren. Das Lied heißt „Krümel noch da“, und wie jedes der zwölf Lieder auf diesem großartigen Album hat es einen Untertitel, der für einen bestimmten Ort steht, der für Kollmann immer auch für ein bestimmtes Verhältnis zur Welt und den Mitmenschen steht. Hier ist es das „Tagescafé“, in dem es alles gibt, nur keine echte Nähe. Die Sehnsucht nach dieser Nähe, nach Verbundenheit und einer Gesellschaft, der diese Grundbedürfnisse wesentlich und nicht bloß schöner Schein sind, durchzieht Kollmanns „Haus“, hat sich dort festgesetzt wie der Krümel im Gesicht: „Ich will nur noch schweigen / Als wär ich ganz nah / Ja, ich weiß, das ist / Un-zu-mut-bar“.
Es klingt mühelos und selbstverständlich, wie Rhythmus, Arrangements, Stimme und Aufbau der Stücke zu Rhythmus und Inhalt von Kollmanns Sprache passen. Der Sound ist minimalistisch, aber meilenweit entfernt von sturzlangweiligem „Lo-Fi“-Geschrammel. Nein, Kollmanns Baritongitarre und die Basslinien geben ein fluides Grundgerüst vor, in dem – wie in einem richtigen Haus – die Bandmitglieder und die Gedanken atmen können, sprechen, schweigen, zweifeln, ein- und ausgehen, immer willkommen. Underground, Folk, Poesie und Alltag sind die Bewohner:innen. Nichts gegen klassische In-drei-Minuten-Auf-den-Punkt-Songs, aber hier dauert es fünf, sechs, sieben, acht Minuten, bis eine Situation auserzählt ist. Nichtseattle nimmt sich die Zeit, um auf den Punkt zu kommen.
Seit 2015 macht die 39-jährige Berlinerin Musik. Parallel auch als Lake Felix aktiv (vier Alben), ist „Haus“ ihr drittes Album als Nichtseattle (der Name ist eine Anspielung auf einen Tocotronic-Song). Ich gebe es gerne zu: Ich gehe auch mal ins Café, und erst spät bin ich zur Nichtseattle-Party gekommen. Aber dafür geh‘ ich jetzt noch lange nicht nach Haus, und wenn, kommen diese Lieder und möglichst die Haltung, für die sie stehen, mit.
Nichtseattle | Di 4.6. 20 Uhr | Bumann & Sohn, Köln | www.bumannundsohn.de
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