„Kunst ist eine Chance, völkerverbindend zu wirken, zumal in Zeiten, wo die Politik versagt“, sagt Udo Zimmermann. Kunst vermag es, Dialoge herzustellen, die Politiker nicht zu Stande bringen. Kunst lässt teilhaben an menschlichen Schicksalen und macht sie physisch und psychisch erfahrbar. Der Künstler ist ein Vermittler und aufgerufen, mit den Menschen und zu ihnen zu sprechen. Somit ist Zimmermanns humanistisches Verständnis von Kunst in Zeiten von Ausgrenzung und nationalistischen Tendenzen aktueller denn je.
Am 22. Februar 1943, im Geburtsjahr von Udo Zimmermann, wurden die Mitglieder der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose vom Volksgerichtshof wegen ihrer Aufrufe gegen die Verbrechen des Naziregimes zum Tode verurteilt, nachdem man zwei ihrer Mitglieder, Hans und Sophie Scholl, vier Tag zuvor in der Münchner Universität beim Verteilen von Flugblättern festgenommen hatte. Die Kammeroper rückt das Geschwisterpaar in ihrer letzten Stunde vor der Hinrichtung ins Zentrum. Die 16 Szenen sind assoziativ miteinander verknüpft, einen linearen Handlungsstrang gibt es nicht. In Monologen reflektieren die zum Tode Verurteilten ihre Erinnerungen, visionäre Bilder scheinen auf. Empfindungen über das Fronterlebnis, den Abtransport von Kindern, die letzte Begegnung mit den Eltern brechen hervor. Dem Gefühl von existentieller Leere und Todesangst stellen sie ihre Hoffnung entgegen, so dass sie am Ende die Vollstreckung des Urteils und den Tod annehmen können. Hans und Sophie sind keine Märtyrergestalten, sondern Identifikationsfiguren, die ihren Glauben an die Menschlichkeit an die Zuschauer weitergeben. Ihr christliches Ethos gebietet ihnen, sich zur Nächstenliebe zu bekennen und gegen Unmenschlichkeit anzugehen.
Der Librettist Wolfgang Willaschek kombiniert Briefstellen der historischen Personen mit Texten von Dietrich Bonhoeffer, Franz Fühmann und Tadeusz Rozewicz zu einem inneren Theater, das über das historisch Konkrete hinaus geht. „Weiße Rose“ ist abstrahiert und verdichtet Geschichte in zwei menschlichen Schicksalen, die in Verbindung mit der Musik direkt für den Zuschauer erfahrbar sind. Die Geschwister sprechen kaum miteinander. Sophie ist die emotionalere von beiden und drückt ihr Erleben in lyrischen Naturbetrachtungen aus, Hans betrachtet seine Situation in nüchternen Kommentaren. In der Schlussszene richten sich beide an das Publikum und appellieren: „Nicht schweigen...sagt nicht, es ist fürs Vaterland! ...Verlängert diesen Wahnsinn nicht, stellt euch nicht länger blind und taub.“
Die Komposition macht das Orchester zum das Stück tragenden Mitspieler, Kommentator und Gegner der beiden Hauptfiguren: Differenzierte, filigrane Klänge bringen Todesahnungen und Visionen der Verurteilten zum Ausdruck. Die Destruktivität des Regimes kommt in martialischen Akkordschlägen zum Ausdruck, die sich an bestimmten Stellen den Lyrismen der Vokalstimmen entgegen stellen, das massive Schlagwerk klingt brutal vernichtend. In stilistisch an Berg und Mahler angelehnten, verzerrten Walzern erklingt „die groteske Maske einer erschreckend gleichgültigen Welt“. Am Ende siegt die zerstörerische Diktatur in Klanggestalt eines nationalsozialistischen Kampfliedes und Geschrei einer fanatischen Menschenmenge – die Stimmen der Humanität verstummen.
„Weiße Rose“ | R: Niki Ellinidou | 28.10., 1., 5., 9., 10., 13., 15.11. | Oper Köln | 0221 22 12 84 00
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