Wer die riesige Halle betritt, wechselt den Planeten. So scheint es jedenfalls. Auffallend fragile Gebilde teilen sich den Raum, schweben losgelöst von aller Sinnhaftigkeit solitär und doch gemeinsam unter der Decke. Lianen hängen bis zum Boden, pendeln leicht im Durchzug. Welcome to the Polyamide-Dschungle. Die Substanz der installierten Netzwerke sindlineare Polymere mit sich regelmäßig wiederholenden Amidbindungen entlang der Hauptkette – auch bekannt als Nylon. Die Bochumer Künstlerin Monika Ortmann arbeitet mit Strumpfhosen, die sie zu riesigen Flächen knotet und schlitzt, oder auch in stählerne Würfel konstruiert. Diese Objekte im Raum leben von einer berührbaren Leichtigkeit, die schon bei geringer Energiezufuhr in Bewegung gerät, dennoch aber über ungemein feste Strukturen verfügt. So nutzt die Künstlerin, die auch in Berlin in Galerien und eigenem Atelier präsent ist, diesen Schwebezustand auch für Verbindungen mit anderem Material und Gegenständen, die in die ausgeklügelten Systeme integriert werden.
An den Wänden hängen Bilder aus dem gleichen Material, die Polyamide werden hier zu Malerei, die insbesondere durch das haptische Momentum der Fasern und die filigrane Verknüpfung einzelner Fäden lebt und damit außergewöhnliche Assoziationen ermöglicht.Innerhalb dieser Gesamtinstallation entstehen so Netze und Strukturen, die sich, so die Künstlerin, formal auch mit Hierarchien und Ausbeutungsszenarien durch übergeordnete Systeme auseinandersetzen und dabei Fragen nach der persönlichen Verortung in diesem Zusammenhang stellen, die ästhetische und konzeptuelle Dimensionen mit einer bewussten, gesellschaftsbezogenen Haltung verbinden – und offen sind für kinetische Interaktionen der Besucher, die das Wesen der filigranen Strukturen testen können. In einem Video, das die Nutzung der Installationen auch als Referenzraum für Performances dokumentiert, sieht man eine fiktive Figur durch die ausgesparten Räume des zerspannten Gewebes wandeln, sieht wie sich die imaginäre Figur aus Verstrickungen befreit und in ihren Aktionen auch auf Netzwerke aus persönlichen Bekanntschaften und medialer Reizüberflutung weist. Aber – versponnen in die Installation verliert sie sich immer weiter im hier konkret gewordenen hypertextuellen Gespinst.
Die Künstlerin bespielt nicht nur die riesige restaurierte Scheune des ehemaligen Schwingeler Hofs in Wesseling, sondern auch die Ausstellungsflächen der städtischen Galerie.Zusammen kann der Zuschauer diese beiden Verortungspunkte der konkreten Inszenierung zu einem undurchschaubaren, abstrakten Geflecht verweben. Diese Struktur in Werk und Präsentation bietet sich auch als Metapher der Netze an, deren kommunikative Grundmusterheute fast alle Bereiche menschlichen Daseins durchwoben haben. Das Internet als sich ständig veränderndes expandierendes Netz von Schnittstellen, in dem es längst keinen Ursprung mehr gibt und es gibt kein Richtig oder Falsch, nur individuell verschiedene Standpunkte. Jeder Punkt kann praktisch mit jedem anderen beliebigen Punkt verbunden werden, bleibt aber dennoch eigenständig und unabhängig. Hier gilt das Prinzip der Vielheit: Es gibt keine einheitliche Beschreibung der Welt, eine objektive Erfassung ist unmöglich.
Welcome to the magic ballroom
7. 9. bis 6.10. 2013
Vernissage: 7.9., 17 Uhr
Kunstverein Wesseling
Infos: 02236 - 87 83 88
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