Die abendländische Bildproduktion dreht sich seit Jahrhunderten um den weiblichen Körper. In einen Strudel ungeahnten Ausmaßes verwandelte sie sich jedoch erst mit der modernen Fotografie und dem Film. Möglicherweise wird das Aufflammen der Gender-Debatte das Bildrepertoire der Vergangenheit noch einmal kritisch durchpflügen. Die Tanzkompanie Mira um die Choreographin Julia Riera greift dieses Thema mit ihrer neusten Produktion „Mira10_Ikonen“ in der Tanzfaktur in Köln mutig auf. Diskret und dennoch unübersehbar begegnet man den Bildern von Göttinnen und Sklavinnen, mit denen die Populärkultur das Bild der Frau in seiner ganzen Fallhöhe zu prägen versuchte.
Sie alle sind erkennbar in einer fließenden Choreographie, in der ironisch zitiert und ebenso augenzwinkernd der Kräfteverschleiß dargestellt wird, mit dem die Glamourbilder die weibliche Existenz abschleifen. Ein Trio agiert auf der großen Bühne der Tanzfaktur. Nein, das ist nicht ganz zutreffend. Tatsächlich tanzen Odil Foehl und Charlotte Petersen. Das Ensemble hatte mit Corona-Problemen zu kämpfen. Deshalb musste das Trio aufgespalten werden. Eine Notlösung wurde erforderlich, die sich jedoch als Glücksfall für die Inszenierung entpuppte. Denn Mijin Kim ist nun auf zwei großen Screens zu sehen, die selbst wie überdimensionale Bilder wirken. Es entstehen neue Dialoge, etwa zwischen Mijin Kim, die augenzwinkernd mit dem Publikum flirtet oder mit ihren beiden Kolleginnen, die schweißtreibende Arbeit vor den Augen des Publikums verrichten. Die Großaufnahmen weiblicher Blicke ziehen allerdings stellenweise die Aufmerksamkeit von der Präsenz der Tänzerinnen ab.
Dennoch bleibt das Spektakel auf der Bühne visuell faszinierend. Getanzt wird in Kostümen aus Tüll, die mit einer Nacktheit der Körper kokettieren, ohne tatsächlich nicht vorhanden ist. Die Choreographie besteht aus einem unablässigen Ringen mit den Bildern von lasziver Schönheit oder vitalem Begehren. Genau jene Temperaturunterschiede, die Philip Mancarellas Musik vorgibt. Eine intelligente Produktion ist Julia Riera und ihrem Ensemble gelungen. Auch deshalb, weil die Produktion – demnächst auch am Bonner Theater im Ballsaal – zeigt, wie die Frauen einerseits der Tyrranei der Ikonen ausgesetzt sind, mit denen sie verwechselt werden und andererseits selbst diese Ikonen herstellen, indem sie subtil die Komposition der Bilder mitgestalten.
Mira10_IKONEN | 15. 10. 2021 | Theater im Ballsaal, Bonn | 0228 79 79 01
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