Einigen Leseratten wird der Agent Provocateur aus seinen unruhestiftenden Zeiten im Literarischen Quartett bekannt sein, wo er kratzbürstig über Schriftsteller und deren Können debattierte. In seinem neuesten Streich macht der regelmäßig durch die Feuilletons wetternde Maxim Biller seinem vorauseilenden Ruf Ehre. Wer mit dessen doppelbödiger Bissigkeit noch nicht vertraut ist, hat nun die Gelegenheit, sie in diesem kaum mehr als 120 Seiten langen Büchlein zu bestaunen.
Die Kürze wird durch die literarische Dichte ausgeglichen, in der Biller selbstironisch seinen Lieblingsthemen frönt, die da lauten: Judentum, Nationalsozialismus und ihre historisch-tiefgreifenden Verästelungen sowohl in die kollektive wie auch in die individuelle Psyche hinein. Einigermaßen brav lesen sich bisherige Kritiken zu „Der falsche Gruß“. Verwunderlich, ist dieses satirisch-überspitzte Buch doch ein Konfrontationsangriff, mit dem der Autor schlecht verheilte Narben deutscher Erinnerungskultur aufreißt.
Der Ich-Erzähler und Antiheld des Romans nennt sich Erck Dessauer, ein aufstrebender Schriftsteller mit chronischem Minderwertigkeitskomplex. Die Handlung beginnt mit einer unerhörten Begebenheit, nämlich einem Hitlergruß. Diesen richtet Erck in einem seltsamen Moment geistiger Umnachtung an seinen eingebildeten Widersacher Hans Ulrich Barsilay, der ein erfolgreicher deutschjüdischer Schriftsteller ist und als Projektionsfläche für Erck herhält: Seit Ercks Jugend scheint Barsilay nämlich unheilvolle Einflüsse auf ihn zu nehmen. Etwa löste ein Zeitungsessay über den Mauerfall einen Nervenzusammenbruch bei dessen Vater, einem labilen Professor, aus. Oder: In Ercks Studienzeit riet ihm der große Literat zum später bereuten Abbruch der Magisterarbeit mit folgenden Worten: „Manchmal ist es besonders mutig, wenn man aufgibt“. Schicksalhafte Einwirkungen also, die den einflussreichen Barsilay im Laufe der nichtlinearen Erzählung immer mehr zum Sündenbock mutieren lassen.
Entlarvend ist schlussendlich die Perspektive des Romans. Denn die Figur Barsilay bleibt phantomhaft, ungreifbar. Ihre negative Färbung speist sich aus der stets subjektiven Perspektive des missgünstigen und neidzerfressenen Erzählers Erck, der wie kein anderer symptomatisch verkörpert, was Maxim Biller aller Welt unermüdlich vorhält: Antisemitismus. „Der falsche Gruß“ ist ein geschickt konstruierter, paranoid-spitzfindiger und gerade darum wohltuend unangenehmer Roman.
Der falsche Gruß | Kiepenheuer & Witsch | 128 S. | 20€
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