Mittwoch, 21. August: Die diesjährigen „Filmgeschichten“ im Filmforum stehen unter dem Obertitel „Blackboards on Silverscreens – Schule und Kino“. Noch bis in den Dezember hinein kann man hier alte und neue Filme auf der Leinwand bestaunen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Schule auseinandersetzen. Wie in der „Filmgeschichten“-Reihe üblich, gibt es jeweils begleitend zur Filmprojektion auch eine professionelle Einführung beziehungsweise ein begleitendes Gespräch mit Gästen. Anlässlich der 35mm-Vorführung des im Jahr 1931 entstandenen Filmdebüts von Leontine Sagan, „Mädchen in Uniform“, konnte für die Einführung die Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto von der Universität Wien gewonnen werden. Diese hatte ihren Vortrag mit „Disziplin, Drill und Durchlässigkeit“ betitelt, um anhand dieser Alliteration die verschiedenen wegweisenden Elemente des Films herauszustreichen, der längst zu den großen deutschen Filmklassikern aus der Zeit der Weimarer Republik gerechnet wird. Lisa Gotto stellte heraus, dass der in einem Mädcheninternat angesiedelte Film seinerzeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa, in den USA und in Japan überaus erfolgreich lief und auch größtenteils begeistert von den zeitgenössischen Kritikern besprochen wurde. Diese betonten in ihren Rezensionen oft sehr plakativ, dass es sich bei „Mädchen in Uniform“ um einen Film ohne Männer handele. In der Tat ist das vermeintlich starke Geschlecht hier lediglich in Form von Statuen präsent, das Schauspielerinnenensemble ist rein weiblich, und auch die Regie und das Drehbuch lagen hier in weiblicher Hand. Die lesbischen Intentionen wurden zur Entstehungszeit nicht immer erkannt, bildeten in den 1970er Jahren in der feministischen Filmwissenschaft aber die Grundlage von etlichen neuen Aufsätzen zum Film, die nicht nur zu dessen Revival führten, sondern „Mädchen in Uniform“ auch Kultstatus bescherten.
Im Sinne preußischer Militärtugend
Unter dem Schlagwort „Disziplin“ machte Lisa Gotto deutlich, dass bereits „die Architektur der Schule streng vertikal und horizontal durchkomponiert ist“. Dadurch spiegele sie in gewisser Weise eine Gefängnisatmosphäre, was sich auch durch den häufigen Einsatz von Gitterstrukturen und den entsprechenden Schattenwürfen bemerkbar mache. So komme es gleichermaßen zu einem visuellen Einschluss, der dadurch unterstrichen werde, dass sich die Filmemacherinnen auf das Innere polarisiert hätten, dass es ihm Film kaum Außenaufnahmen gäbe. Aber auch die Tatsache, wie „Körper in diese Räume eingefasst werden“, unterstreiche den Aspekt der Disziplin. Denn das Individuelle sei hier nicht mehr zu erkennen, weil alle Körper durch die gleiche Kleidung (Uniform) gleich aussähen, dadurch auf Uniformität getrimmt seien. Was Gotto zum nächsten Punkt ihrer Abhandlung brachte, dem Drill. Hinter ihm stünde eine preußische Militärtugend, dem sich nicht nur die Schülerinnen, sondern auch die Lehrerinnen unterzuordnen hätten. Der Alltag bis hin zu den Ernährungsformen im Internat wären klar reguliert, die Mädchen müssten wie die Soldaten marschieren. Diese rigiden Regeln würden im Film allerdings von einigen der Protagonistinnen hinterfragt, weswegen sie durchlässig würden, was Lisa Gotto zum dritten Teil ihrer Analyse brachte, der für den Film sicherlich die spannendste Komponente darstellt und nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürfte, dass „Mädchen in Uniform“ auch heute noch einen filmgeschichtlich hohen Stellenwert einnimmt.
Extreme Form der Grenzüberschreitung
Immer wieder komme es im Film zu „Momenten, Einstellungen und Augenblicken“, in denen die Disziplin und der Drill nicht mehr funktionieren würden, so Gotto weiter. Anhand einiger Filmstills machte die Filmwissenschaftlerin deutlich, dass sich die rebellische Schülerin und die Lehrerin häufig in Schwellensituationen begegneten. Die Offenheit eines Treppenhauses oder ein Aufeinandertreffen vor einem Fenster unterstrichen diese Form der Durchlässigkeit, die schließlich dazu führe, dass dem Autoritätsprinzip von „Dominanz und Unterwerfung“ nicht mehr entsprochen werden könne. Wenn sich Schülerin und Lehrerin körperlich immer weiter annähern, erinnere dies eher an ein Liebespaar, was in der Ästhetik der Einstellungen wiederaufgenommen würde. „Dies ist eine extreme Form der Grenzüberschreitung, die einen ungewöhnlichen Moment für das Kino des Jahres 1931 darstellt, aber auch noch für das Kino von heute“, führte Lisa Gotto weiter aus. Frauenkörper, die nicht mehr im Verhältnis mit Männerkörpern, sondern im Verhältnis mit anderen Frauenkörpern inszeniert würden, stellten unsere Sehgewohnheiten auch heute noch auf den Kopf. Hinzu komme, dass die Schülerin Manuela (dargestellt von Hertha Thiele) in einigen Szenen mit extremen Close-Ups von ihrem Gesicht gezeigt würde, wodurch die Anonymität der Masse, wie sie zuvor im Film eingeführt worden war, wirkungsvoll aufgebrochen würde und nun das Individuelle ins Zentrum rücke. „Die Gesichtsgroßaufnahmen hängen fast traumgleich im leeren Raum“, erläuterte Lisa Gotto diesen inszenatorischen Kniff. Für die Wissenschaftlerin setzt sich die Durchlässigkeit auch beim Sound dieses frühen Tonfilms fort, wenn einzelne Stimmen mitunter das Spektrum austesten und damit den Klang destabilisieren würden. Als nächster Beitrag der „Filmgeschichten“ läuft am 2. Oktober im Filmforum „If…“ von Lindsay Anderson mit einer Einführung von Filmjournalist Werner Busch.
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