Mozart und sein Librettist Da Ponte greifen bei der Vorlage für ihre Oper auf einen politisch hochbrisanten Stoff zurück: auf die am Vorabend der Französischen Revolution entstandene Komödie „Die Hochzeit des Figaro oder Der tolle Tag“ von Beaumarchais, ein Zerrspiegel der Korruption und Dekadenz des Ancien Régime.
Die Hierarchie auf dem Schloss des Grafen Almaviva spiegelt die gesellschaftlichen Zustände zu Zeiten Mozarts wider: Der absolutistische Machtanspruch des Grafen droht das Privatleben seines Dieners Figaro zu zerstören, auf dessen Braut Susanna er ein Auge geworfen hat. Obwohl er sich als aufgeklärter Herrscher gibt und auf das Recht der ersten Nacht offiziell verzichtet hat, versucht er durch ein Intrigenspiel, Susanna für sich zu gewinnen und droht damit nicht nur die Zukunft des Dienerpaars, sondern auch seine eigene Ehe zu zerstören. Sein Verhalten polarisiert alle auf dem Schloss Ansässigen: Die einen hängen sich an den Grafen, weil sie einen persönlichen Vorteil für sich erhoffen, die anderen solidarisieren sich mit der enttäuschten Gräfin und dem Dienerpaar: „Jeder drängt, man schubst sich, man benutzt seine Ellbogen, man rempelt den anderen um. Ans Ziel kommt, wer kann – der Rest wird zerquetscht“, heißt es im Streitgespräch zwischen Figaro und dem Grafen bei Beaumarchais.
Komponist und Librettist müssen viele Änderungen vornehmen, um diesen politischen Zündstoff durch die österreichische Zensur zu bekommen. So verzichten sie gänzlich auf die tagespolitischen Bezüge in Frankreich, zumal Marie Antoinette, die Schwester des österreichischen Kaisers, mit Ludwig XVI verheiratet war und wenige Jahre später Opfer der Französischen Revolution wurde. Kritik am Adel und Amtsmissbrauch durfte in der Oper nur im Sinne der aufgeklärten Politik Joseph II geübt werden, mit der er seine Herrschaft sicherte und Aufstände in Österreich verhinderte.
„Was in unseren Zeiten nicht erlaubt ist, gesagt zu werden, wird gesungen“, sagte Da Ponte. In der Tat legt die Musik Mozarts die Gewalt der Begierden, die Emotionen und die erotischen Spannungen bloß, die das menschliche Handeln und politische Denken der Figuren in dem undurchschaubaren Intrigenspiel bestimmen. Mozart schafft für jede Figur in Tonfall und Arienform ein komplexes musikalisches Charakterbild, das auch den sozialen Stand und das Alter mitberücksichtigt. Die ungeheure Mehrschichtigkeit des Singstimmen- und Orchestersatzes in den Ensembles leuchtet die szenischen Situationen und die Beziehungen der Figuren untereinander bis ins Detail aus, und das Finale des zweiten Aktes in seiner groß angelegten Steigerung ist im Werk Mozarts unübertroffen.
Mozarts Musik macht mit der Komödie Ernst und führt die menschlichen Beziehungen an den Abgrund des Scheiterns. Doch am Ende scheint die Utopie der Versöhnung auf: Der Graf bittet um Verzeihung, die emotionale Gleichberechtigung gesellschaftlich Ungleicher scheint möglich geworden zu sein, und insofern ist diese Oper ein Aufklärungsexperiment einer geschlossenen, zunehmend öffentlichem Druck ausgesetzten Gesellschaft – Oper als Politikum.
„Le Nozze di Figaro“ I Palladium I 12.(P)/14./16./18./20./24./26./28./31.10, 4.11.
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