Schon das Eintreten ist etwas Besonderes. Wir laufen die Treppe zum Ausstellungsbereich hinab und werden sogleich von einem Mann im Anzug höflich nach den Namen gefragt. Als ständen wir auf der Gästeliste einer exklusiven Party, ruft er getreu den vorzüglichen Riten früherer Epochen unsere Namen laut in die Ausstellungshalle. Wir sind aufgenommen und treten ein und sind auf uns gestellt… Die Ausstellung von Pierre Huyghe – eine umfassende Werkschau mit rund 60 Arbeiten von 1986 bis 2014 – erweist sich als Labyrinth aus Bildlichkeit und subtiler Andeutung, Verständlichkeit und Rätsel, Komplexität und Einfachheit. Sie ist sinnlich, ja romantisch, und karg und spröde. Stellwände schneiden in den Saal, verengen ihn und lenken die Laufwege. Wo beginnt die Ausstellung, wo endet sie? Eine Person läuft mit einer Maske aus leuchtenden Glühbirnen durch die leicht verdunkelten Räume – sie taucht auch in der Filmprojektion „The Host and the Cloud“ auf, einem Experiment, bei dem fünfzehn Schauspieler ein Jahr lang in einem verlassenen ethnographischen Museum in Paris untergebracht waren, wobei das Ganze entglitt, aber im Film bleibt offen, was gespielt und was real ist. Eine Art Windhund, bei dem ein Bein pink eingefärbt ist, kreuzt unsere Wege oder döst auf Fellen in den Nischen der Stellwände. Auf dem Treppenabsatz, den es wieder hoch, Richtung Sammlung geht, liegt ein Buch von Edgar Allan Poe mit einer Novelle, die sich auf eine Polar-Expedition bezieht. Andernorts in der Ausstellung wird auch das wieder aufgenommen werden.
Mit diesem Programm, das Plan, Spiel und performance-artiges Geschehen zusammenführt, hat sich Pierre Huyghe, der 1962 geboren wurde, in Paris lebt und zweimal auf der Documenta vertreten war, in der ersten Liga der Kunst etabliert. Ein wichtiges Thema ist unser Verhalten im sozialen Gefüge der Zivilisation. Damit verbunden ist die Frage nach der Wechselbeziehung von Kultur und Natur und die Vereinnahmung der Natur mit ihren Geheimnissen und Besonderheiten. In der Ausstellung sind Aquarien – sogenannte Zoodramen – mit hinreißenden Geschöpfen zu sehen. Ein Einsiedlerkrebs haust in einer Maskenskulptur von Brancusi. Im Außenraum verschwindet der Kopf einer figürlichen Skulptur unter einem Bienenschwarm. Und Filme, die tropisches Wachstum zeigen, werfen einen Blick auf verschiedene Tierarten und deren Verhalten. Auch ein Bambi ist darunter, und offen bleibt, wie ernst und wie humorvoll das gemeint ist. Immer wieder ist die Eroberung unbekannten Terrains durch den Menschen geschildert. Huyghe vermittelt die Lust am Staunen, indem er gewöhnliche Situationen in ungewöhnliche verwandelt.
Eine eigene Rolle kommt dem Realraum zu. In Köln stammen die Stellwände aus der ersten Ausstellungstation im Pariser Centre Pompidou – und dort waren sie zunächst Display der Präsentation von Mike Kelley. Pierre Huyghe hat sie an Ort und Stelle für seine eigene Schau belassen. Im nächsten Schritt hat er nun die Stellwände mit den Werken daran in das Museum Ludwig transloziert: Eine Ausstellungssituation verschmilzt mit der anderen. Aber Pierre Huyghe wendet sich ebenso der Konstitution des Museum Ludwig zu. Er hat an einer Stelle in Millimeter-Arbeit die Schichten der Wand abgetragen, so dass die übermalten Farbschichten früherer Ausstellungen wie die Jahresringe eines Baumes und als abstrakte Malerei zutage treten. In der Ausstellung stoßen wir immer wieder auf solch eindrucksvolle, berauschende Arbeiten – aber der Rausch funktioniert nur, wenn auch die Ernüchterung da ist. Und dann wieder versöhnt die Macht der Bilder. Dies betrifft besonders den letzten Raum mit seiner traumhaften, von Musik untermalten Inszenierung: Von hier aus sehen wir die Ausstellung wieder ganz anders. Wie schön!
Pierre Huyghe | bis 13.7. | Museum Ludwig | 0221 221 261 65
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