„Enter the Void“ von Gaspar Noé: Über zweieinhalb Stunden lang aus der subjektiven Perspektive seines toten Protagonisten gefilmt. „Kinatay“ von Brillante Mendoza: Der Zuschauer steckt zusammen mit der Hauptfigur in einem Kleinbus, auf dem Weg zu einem fürchterlichen Verbrechen. „Mary & Max“ von Adam Elliot: zwei tragische Hauptfiguren – die eine trinkt, die andere ist Autist. Beide sind animierte Knetpuppen. „Me Too“ von Álvaro Pastor & Antonio Naharro: Nicht nur der lebensfrohe Protagonist leidet am Down-Syndrom, sondern auch dessen Darsteller. Vier komplett unterschiedliche Filme, die im August in unseren Kinos starten, denen doch etwas gemein ist: Sie alle loten Grenzen aus, sie alle bereichern das Kino mit inhaltlich-formellen Grenzgängen. Und das in einer Zeit, in der die Spielräume – vor allem in finanzieller Hinsicht – enger werden.
Ein Klassiker der Filmliteratur beschäftigte sich bereits 1974 mit filmischen Grenzgängern: Amos Vogel erforschte mit seinem Buch „Film als subversive Kunst“ das „Kino wider die Tabus“. Vogel erkundete ästhetische und narrative Extreme, untersuchte Sexualität, Gewalt und den Tod im Film ebenso wie allgemeine religiöse, politische und moralische Tabubrüche. Inzwischen geht in Sachen Sex im Mainstream fast nichts mehr, in Sachen Gewalt fast alles. Nur ist die Gewaltdarstellung heute selten so subversiv wie damals, sie ist meist nur noch pornografisch. Subversion muss heute anders funktionieren als vor 40 Jahren. Aber kann man sich in den gegenwärtigen Krisenzeiten eine solche Radikalität überhaupt noch leisten? Man könnte denken, dass in unsicheren Krisenzeiten die Realitätsflucht bei den Zuschauern regiert und Filmemacher, Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber deshalb auf Nummer Sicher gehen. Umso bewundernswerter ist es, dass dennoch immer wieder unbekanntes künstlerisches Terrain abgesteckt wird. Mit allen finanziellen und künstlerischen Risiken. Auf die Gefahr hin, dass das Ergebnis unfertig, unperfekt und angreifbar ist, ergibt sich die Chance neuer Sichtweisen. Diese Freiheit ist allemal spannender als die perfekte Erfüllung eines gängigen Regelkataloges.
Das alles hat hier und heute große Relevanz. Gerade in Köln wird der finanzielle Rahmen zurzeit immer enger. Die vielen Kinomacher, die hier mit knappen Mitteln Filmprogramme zeigen – sei es als Kinobetreiber, Festivalmacher oder private Filminitiative, die regelmäßig Neuaufführungen, Sondervorführungen und Reihen programmieren, müssen unter den kommenden Sparmaßnahmen der Stadt mit dem Schlimmsten rechnen. Für einige könnte schon Ende des Jahres das Aus kommen. So droht den Internationalen Stummfilmtagen in Bonn bereits jetzt eine komplette Streichung der städtischen Mittel. Auf die Straße gehen ist nicht Jedermanns Sache. Ins Kino gehen, und zwar abseits der ausgetretenen Pfade des Mainstreams, kann aber auch schon zu einem bedeutsamen Statement für eine Kultur der Vielfalt werden.
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