Auch am Schreibtisch kann man sein Leben verlieren. Eine Schriftstellerin entgeht nur durch Zufall dem Tod, weil Jugendliche im Nachbargarten mit einer geladenen Pistole spielen. Eine Episode, die sich in der Realität zugetragen hat. Paula Fox beschreibt sie in dem Band „Die Zigarette und andere Stories“, der Texte von Fox aus den sechziger Jahren in sich vereint und voller überraschender Begegnungen steckt. Die Literatur hält solche Überraschungen immer wieder für uns bereit. Über Jahrzehnte hinweg wird eine Autorin übersehen und dann treffen uns ihre Texte wie Pfeile, die in einer vergangenen Epoche abgeschossen wurden, heute mitten ins Herz.
Paula Fox, von der Jonathan Franzen sagt: „Sie ist eine Königin, eine große Dame, eine phantastische Geschichtenerzählerin“, verfügt zweifellos über eine schillernde Persönlichkeit. 1923 in New York als Kind zweier Intellektueller geboren, die sich für alles interessieren, nur nicht für ihre Tochter, wird sie von den Eltern fortgegeben. „In fremden Kleidern“, so der Titel ihrer fulminanten Kindheitsbiographie, wächst sie bei Pflegeeltern auf. Ein Trauma, das sich durch die weibliche Linie ihrer Familie über drei Generationen hinweg fortsetzt. Auch sie gibt eine Tochter weg, die in den sechziger Jahren in den Drogensumpf abrutscht, allerdings nicht bevor sie ihrerseits eine kleine Tochter in die Welt gesetzt hat. Courtney Love, Rocklegende, Ehefrau von Kurt Cobain machte zuletzt von sich reden, als man ihr das Sorgerecht für ihre Tochter entzog.
Paula Fox weiß, wie genau Kinderaugen schauen, ihre Kinderliteratur ist von unvergleichlicher Meisterschaft. Das beweist sie etwa mit dem kurzen Roman „Ein Bild von Ivan“, die Geschichte eines reichen, aber einsamen Jungen in New York, der dem Schicksal seiner verstorbenen Mutter auf die Spur kommt und dabei sein eigenes Leben rettet. Wieder so ein Fall. 1969 schrieb Paula Fox den Roman, der 39 Jahre später den Deutschen Jugendliteraturpreis gewann. Mit „Ein Dorf am Meer“ lieferte sie den Blick auf die Welt aus klugen Mädchenaugen – und der Literatur einen der faszinierendsten Romananfänge des späten 20. Jahrhunderts.
Texte, die ein solches Alter auf dem Buckel haben, brauchen sensible Übersetzer, die ihnen den Zugang zur Gegenwart freilegen. In den neunziger Jahren, als Paula Fox erstmals in Deutschland auf der Landkarte der amerikanischen Literatur auftauchte, gelang das nicht immer. Zum Glück hat sich das geändert, denn zu der Brillanz der Fox-Romane zählt ihre klare, wuchtige Sprache, in der Männer und Frauen miteinander sprechen. Da spürt man das Knistern der Erotik in Romanen wie „Kalifornische Jahre“, „Der Gott der Alpträume“, „Lauras Schweigen“ oder „Was am Ende bleibt“. Im Grunde sind alle Geschichten von Paula Fox Geschichten der Gesten, in ihnen gerinnen Gefühle zu Zeichen. Wie eine Frau einen Ring überstreift, wie sie sich entkleidet, ein Glas an die Lippen führt, zur Seite blickt, das sind die äußeren Reaktionen, die erst die inneren Bewegungen sichtbar machen.
Man kann sich verlieren in den Textwelten der Paula Fox, deren Konsistenz sich aus dem Erfahrungsgrund eines schwierigen Lebens speist. Bernadette Conrad hat für ihre klug geschriebene Biographie „Die vielen Leben der Paula Fox“ mit der Amerikanerin manche Stunde am Küchentisch ihrer Wohnung in Brooklyn verbracht. Sie ließ sich in die Geheimnisse eines Werks einweihen, das einen dazu verführt, die Welt in einem anderen, zärtlicheren Licht zu betrachten.
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